Motiv Angst
denken. Schritt für Schritt â so als schleppte er eine riesige Last mit sich herum â stapfte er los. Den Blick stur auf seine Schuhspitzen gerichtet. Wenn ich niemanden sehe, dann werde auch ich nicht gesehen. Das hatte er als kleiner Junge immer gedacht, wenn er sich vor etwas gefürchtet hatte. Einfach nicht hinschauen, dann passiert schon nichts. Kurz vor dem Klassenraum musst er aufschauen und sah ihn.
Breitbeinig, wie Jan es von den Cowboys in den alten Westernfilmen seines Vaters kannte, stand er direkt neben der Garderobe. Jan brauchte einen Herzschlag zu lang, bis er beschloss wegzurennen. Im nächsten Moment hatte Victor ihn gepackt und ihm die Arme hinter dem Rücken verdreht.
âWolltest du schon wieder weglaufen, du Wichser?â
Einige Kinder huschten an Jan und Victor vorbei ins Klassenzimmer. Keiner traute sich etwas zu sagen â die meisten starrten einfach stur geradeaus. Aus dem Augenwinkel konnte Jan seinen Freund Tobias entdecken. Doch der zog nur schnell den Kopf ein und war im Klassenraum verschwunden. Victor drückte Jans Arme mit einem heftigen Ruck weiter nach oben. Jan jaulte vor Schmerz laut auf â trotzdem kam ihm keiner zur Hilfe. Er hörte, wie die Tür zum Klassenzimmer laut ins Schloss fiel. Der Gang war wie leer gefegt â bis schlieÃlich Frau Bender um die Ecke bog. Als Victor sie entdeckte, schubste er Jan ruckartig nach vorne, sodass dieser genau mit dem Gesicht gegen einen Garderobenhaken knallte. Dann schlenderte er völlig gelassen in die entgegengesetzte Richtung davon. Dass Frau Bender ihm hinterherrief, er solle gefälligst stehen bleiben, ignorierte er einfach.
âDu blutest ja!â
Die junge Lehrerin war völlig aufgelöst. Hektisch kramte sie in ihrer Aktentasche nach einem Paket Tempos und reichte Jan eines der Tücher.
âHalt das mal an deine Stirn. Verdammt, ich glaube das muss genäht werden.â Mit einer raschen Bewegung öffnete sie die Klassenzimmertür und rief in den Raum hinein: âKann ... kann vielleicht mal einer von euch hierher kommen ... â Ihre Stimme überschlug sich fast vor Aufregung.
âScheiÃe, was ist dir denn passiert?â Tobias war plötzlich neben ihm und tat völlig überrascht.
âArschloch ...â
Am liebsten hätte er Tobias für diese scheinheilige Frage ebenfalls mit der Stirn gegen den Garderobenhaken geknallt.
âDas ist nur der Schock, Tobi. Jan hat einen Schock ... Schnell lauf ins Lehrerzimmer und hol Herrn Böker.â
âNEIN!â
Deutlich konnte er die Worte des dicken Marvin hören âDer hat geschworen, ihn alle zu machen ...â
Der macht mich alle, wenn er meinetwegen Ãrger mit dem Böker bekommt. Der macht mich alle ...
Jan schüttelte Frau Benders Arm, den sie ihm auf die Schulter gelegt hatte, ab, als ob es sich um eine lästige Fliege handeln würde. Mit einem Satz sprang er zur Seite und wollte losrennen. Aber das Ganze war nicht gut durchdacht, denn direkt vor ihm stand die Aktentasche der Lehrerin. Er stolperte darüber, kippte kurzerhand nach vorne und fiel der Länge nach auf den Boden. Irgendeiner lachte, aber Frau Bender brüllte los und augenblicklich war wieder alles still. Fast jedenfalls.
âEs ist nichts passiert!â, kreischte Jan und rappelte sich hoch.
âIch bin nur ... nur ... gestolpert. Es ist nichts passiert ... Tobias, komm zurück! Es ist nichts passiert ... ich will nicht, dass der Böker geholt wird ... es ist nichts passiert ... ich bin nur gestolpert ...â
Jans Stimme wurde immer schriller.
âJan, bitte beruhige dich doch. Du musst zu einem Arzt. Du hast eine groÃe Platzwunde an der Stirn.â Frau Bender versuchte ihn zu beruhigen. Ihre Augen waren vor Schreck ganz schwarz und ihr Gesicht schneeweiÃ.
âBitte, Frau Benderâ, flehte Jan die junge Lehrerin an, âbitte holen sie nicht den Rektor. Bitte nicht.â
Inzwischen hatte sich die gesamte 5a um Jan und Frau Bender versammelt.
âSoll ich mit meinem Handy den Notarzt anrufen?â, rief Vanessa aufgeregt. Frau Bender hatte sich wieder etwas gefangen. âNein, schon gut Vanessa. Bitte geht alle zurück in den Klassenraum. Ich bringe Jan ins Krankenzimmer. Markus, du hast so lange die Aufsicht. Nehmt eure Englischhefte und schreibt die Vokabeln auf Seite 8 und 9 in euer Heft.â Dann hakte sie Jan unter und zog ihn mit sich. Jan lieÃ
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