Mottentanz
ist, in dem du Ninas Zeichnung gefunden hast, was dann? Wie willst du ihn finden? Wenn er nicht seinen Namen und seine Adresse als Tattoo auf dem Kopf trägt, dann wird das ziemlich unmöglich…«
Ich blende sie aus, denn da ist er .
Stopp. Rückspultaste. Abspielen. Er wirkt ein paar Jahre älter als wir, trägt halblange Cargohosen und ein weißes T-Shirt. Hellblondes Haar, dünne, mit Tattoos bedeckte Arme, trägt einen großen weißen Karton. Ich halte das Band an und lege einen Finger auf die winzige Gestalt auf dem Bildschirm. Ich drücke so fest, dass mein Finger weiß wird. Dann drücke ich Play und schaue zu, wie er den Karton auf den Tresen legt und etwas zu Morgette sagt. Sie nickt, er gibt ihr den Karton, sie trägt ihn zur Waage, wiegt ihn, kommt wieder zum Tresen und gibt ihm Geld. Er geht in Richtung Tür, an Amanda vorbei, die Hüte anprobiert, dann dreht er sich um und dann… das ist der perfekte Teil: Er geht zum Schwarzen Brett, das Morgette neben der Tür aufgehängt hat, nimmt etwas aus der Hosentasche und pinnt es an die Tafel.
Dann ist er weg.
Ich drehe mich zu Amanda um, die mich mit großen Augen ansieht. »Oh!«, sage ich.
Ich renne durch Morgettes Büro in den Ladenraum und komme vor dem Schwarzen Brett zum Stehen. Amanda ist dicht hinter mir.
»Ellie?« Ihre Stimme klingt angespannt. Sie legt mir die Hand auf den Arm, und als ich sie ansehe, liegt so viel Besorgnis in ihrem Gesicht, dass ich eine Sekunde lang glaube, sie wird gleich anfangen zu weinen. »Wir haben keine Ahnung, wie ihre Zeichnung in das Buch gekommen ist, oder wann sie sie gezeichnet hat, oder woher der Typ, der hier war, das Buch hat. Vielleicht hat er es auf dem Flohmarkt gekauft oder auf der Straße gefunden… oder so.« Sie
zwingt sich aufzuhören und schüttelt dann den Kopf. Aber ich lasse mich nicht beirren. Ich weiß, warum Amanda das sagt. Wir machen das nicht zum ersten Mal durch.
Nach Ninas Verschwinden redete ich nur davon, wie ich sie wiederfinden konnte. Ich dachte an nichts anderes. Und mindestens ein Dutzend Mal dachte ich, ich sei so nahe dran , sie zu finden. Einmal sah ich ein Mädchen auf der Straße, das genau die gleiche blaue Haarfarbe hatte wie Nina. Ich folgte ihm eine Stunde, weil ich ihm Fragen stellen wollte. Vielleicht gehörten er und Nina einem Klub für Mädchen mit blauen Haaren an und diese Fremde würde mich zu den anderen Mitgliedern führen. (Es stellte sich heraus, dass das Mädchen aus Russland stammte, hier zu Besuch war und kein Wort Englisch konnte.) Ein anderes Mal fand ich einen zerknitterten Flyer für einen Laden für Künstlerbedarf in der Tasche von Ninas Jeans und fuhr drei Stunden mit dem Bus zu dem Laden, nur um zu entdecken, dass er zugemacht hatte. Und dann drei Stunden zurück. Bei diesen und noch einigen anderen Spurensuchen hatte Amanda mich immer unterstützt und war mir die beste Freundin gewesen, die man sich vorstellen konnte. Und jedes Mal, wenn die »Spuren« erneut ins Leere führten, was immer geschah, und ich wieder am Boden zerstört war, weil ich mich fühlte, als sei Nina aufs Neue verschwunden, war Amanda für mich da gewesen und hatte mich wieder auf die Beine gestellt. Die Zeit verging, und es erschien immer unwahrscheinlicher, dass diese Irrwege wirklich zu meiner Schwester führen würden. Und irgendwann hatte Amanda wohl beschlossen, dass es nicht gut für mich war, wenn sie mir immer wieder beim Suchen half.
Ich weiß also, was sie mir sagen will, aber ich werde nicht zuhören.
Ich drehe mich wieder zum Schwarzen Brett um und spüre, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitet.
»Ellie …«
Ich nehme den Flyer von der Pinnwand. Ich sinke nicht mehr, sondern schwebe hoch, immer höher. Da ist er . Knallrotes Papier, mit Großbuchstaben beschrieben. Das Ding ist auf jeden Fall von dem Typen. Und ich weiß, dass es nur eine Erklärung dafür gibt: Das ist Schicksal. Was auch passieren mag, es wird alles funktionieren. Alles wird gut werden. Ich habe zu lange gewartet, um dies nicht zu glauben.
HERZLICHE EINLADUNG ZUR ABBRUCHPARTY
INS MOTHERSHIP (349 BELMONT AVENUE)
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