Mr. Fire und ich (Band 6)
habe ich dafür gesorgt, dass er in der bestmöglichen Einrichtung aufgenommen wird! Dank mir hat es ihm nie an irgendetwas gemangelt!“
„Außer an seiner Familie! Wie oft hast du ihn in den letzten Jahren besucht, Daniel? Wann hast du dich das letzte Mal mit Jérémie unterhalten?“
„Er ist doch vollkommen unfähig, ein Gespräch mit wem auch immer zu führen, der arme Wicht ...“
Diesmal gehen die Verachtung und Herablassung in Daniels Tonfall nicht ohne Weiteres durch. Agathe, die so nah zu ihm hingetreten ist, dass er zurückweicht, versetzt ihrem Bruder eine schallende Ohrfeige. Der Schlag hallt in der gesamten Eingangshalle wider. Es scheint, dass Agathe zu lange geschwiegen hat. Die Tochter aus dem Hause Wietermann rechnet ab:
„Mein armer Daniel! Du weißt nichts. Deinen Bruder kennst du nicht, aber vor allem hast du keine Ahnung, wer unsere Mutter wirklich ist und was sie getan hat.“
„Bitte hör auf, Agathe!“
Daniel schneidet ihr das Wort ab und starrt dabei auf mich, in einem verzweifelten Versuch, sie zum Schweigen zu bringen. Aber damit schürt er ihr Redebedürfnis nur noch mehr.
„Glaubst du, dass man Menschen, mit denen man nicht zufrieden ist, einfach so beseitigen kann, wie man eine Uhr zum Uhrmacher zurückträgt? Jérémie war erst ein kleiner Junge! Verstehst du nicht, was sie tun wollte?“
Falls ihn die Enthüllungen seiner Schwester überraschen oder hellhörig machen sollten, lässt sich Daniel nichts davon anmerken. Im Gegenteil, er ergreift Partei für seine Mutter:
„Das war ein Unfall! Mama hat mir alles erzählt.“
Er dreht sich um und macht Anstalten wegzugehen, aber Agathe spricht weiter und hebt dabei die Stimme:
„Sie hat dir gesagt, was sie gerade Lust hatte, dir zu sagen! Und du hast ihr geglaubt, weil es dir in den Kram gepasst hat! Sie hat versucht, ihn zu töten, Daniel, verstehst du mich? Mama wollte unseren Bruder töten! Schau der Wahrheit ins Gesicht!“
Er bleibt im Korridor stehen. Ohne sich umzudrehen, stößt er hervor:
„Stumm oder nicht stumm, du bist gestört, Agathe.“
Gestört? Weil sie nicht seiner Meinung ist? Es ist ganz klar: Daniel Wietermann hat gesprochen, also ist die Diskussion beendet. Eines Tages wird Daniels Arroganz nach hinten losgehen!
„Wie wäre es, wenn Mama selbst uns ihre Sicht der Dinge schildern würde?“, fragt eine Männerstimme hinter uns.
Wir zucken alle zusammen und drehen uns gleichzeitig zu der unbekannten Stimme um. Vor mir steht eine andere Ausgabe von Daniel: Trotz seiner gebeugten Haltung und seines Gehstocks hat dieser Mann die gleiche Schönheit wie Daniel, aber seine Züge sind härter, wie vom Leben gezeichnet. Er ist groß und hager. Aber die grünen Augen sind eindeutig die gleichen. Ohne jeden Zweifel ist Jérémie, denn es kann nur er sein, ein echter Wietermann. Und was auch immer ihre Mutter darüber denken mag, er sieht ihr unglaublich ähnlich, vielleicht noch mehr als Daniel.
Der Mann scheint verrückt und zugleich verzweifelt: Er hat zerzauste Haare, seine Augen quellen hervor und ein nervöser Tick lässt seine Oberlippe zucken. Seine zerknitterte Kleidung ist schmutzig und ich würde nicht darauf wetten, dass er nüchtern ist. Dennoch strahlt er ein echtes Charisma aus, wie eine Art Magnetfeld. Dieser Mann ist genauso gefährlich wie faszinierend.
Diese Details bemerke ich, aber insbesondere registriere ich die schwarze Pistole in seiner Hand, die auf uns gerichtet ist. Als mir bewusst wird, dass er uns mit einer Waffe bedroht, entfährt mir ein Schrei.
Dieser wird jedoch schon bald von dem Gebrüll Diane Wietermanns übertönt, die von einer völlig veränderten Haydée vor den Pistolenlauf geschubst wird: Seit Jérémie aufgetaucht ist, hat sich diese zarte, dahinschwindende und zu Tode verängstigte Frau in eine entschlossene Komplizin verwandelt. Mit einem einzigen Blick zwingt sie Diane, zu schweigen und sich auf den Boden zu setzen.
Daniel scheint wie erstarrt, dass jemand seine Mutter derart herabwürdigen kann. Das ist es vermutlich, was ihn dazu bringt, entgegen jeder Vernunft und Vorsicht zu fragen:
„Wer bist du?“
Jérémie mustert Daniel verächtlich:
„Brüderchen, du kennst mich nicht, das ist wahr! Ich bin der Ältere von uns beiden! Auch wenn es dir einiges abverlangt, solltest du mir mit Respekt begegnen!“
Er setzt einen finsteren Blick auf. Ohne seine Ruhe zu verlieren oder zurückzuweichen, erwidert Daniel:
„Nicht du, Jérémie. Ich hab dich mir
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