Mr. Vertigo
Dean eines Freitagabends mit seiner Alten und zwei, drei anderen Paaren in den überfüllten Laden schneite. Es war sicher nicht der Augenblick für ein offenes Wort über seine Zukunft, aber ich ließ es mir nicht nehmen, zu ihm an den Tisch zu treten und ihn im Club willkommen zu heißen. «Freut mich, Sie hier begrüßen zu dürfen», sagte ich und hielt ihm die Hand hin. «Ich bin selbst aus Saint Louis und habe Ihre Karriere von Anfang an verfolgt. Ich bin einer Ihrer treuesten Fans.»
«Das Vergnügen ist ganz meinerseits, Freund», sagte er, nahm meine kleine Hand in seine riesige Pranke und schüttelte sie kräftig. Er wollte mich grade mit einem raschen Lächeln abfertigen, als seine Miene plötzlich einen verwirrten Ausdruck annahm. Er runzelte die Stirn, kramte in seinem Gedächtnis, und als er nicht fand, was er suchte, sah er mir tief in die Augen, als glaubte er, es dort finden zu können. «Ich kenne Sie doch, oder?», sagte er. «Ich meine, wir sehen uns nicht zum ersten Mal. Ich weiß bloß nicht mehr, wo das war. Ziemlich lange her, richtig?»
«Nicht dass ich wüsste, Diz. Vielleicht haben Sie mich mal auf der Tribüne gesehen, aber gesprochen haben wir noch nie miteinander.»
«Quatsch. Ich könnte schwören, dass wir uns kennen. Verdammt seltsam, das Gefühl. Na ja», sagte er achselzuckend und grinste so locker, wie bloß er es konnte, «ist ja auch egal. Jedenfalls haben Sie einen tollen Laden hier, Chef.»
«Danke, Champ. Die erste Runde geht auf mich. Ich hoffe, Sie und Ihre Freunde amüsieren sich hier gut.»
«Deswegen sind wir hier.»
«Viel Spaß bei der Show. Wenn Sie was brauchen, rufen Sie einfach.»
Ich war so zurückhaltend wie möglich geblieben und entfernte mich mit dem Gefühl, die Situation ganz gut gemeistert zu haben. Weder hatte ich mich an ihn rangeschmissen, noch hatte ich ihm vorgeworfen, er ginge vor die Hunde. Ich war Mr. Vertigo, ein eleganter Städter mit glatter Zunge und vornehmen Manieren, und ich gedachte nicht, mir anmerken zu lassen, wie sehr mir seine miese Lage zu Herzen ging. Ihn in Fleisch und Blut zu sehen hatte den Zauber ein wenig gelöst, und unter normalen Umständen hätte ich ihn mir wohl bald aus dem Kopf geschlagen: noch so ein netter Kerl, dem das Pech an den Füßen klebte. Wozu sollte ich mich mit ihm abgeben? Dizzy war auf dem absteigenden Ast, und bald würde ich gar nicht mehr an ihn denken müssen. Aber es kam ganz anders. Dean selbst erhielt nämlich die Sache am Leben. Ich will nicht behaupten, wir seien Busenfreunde geworden, aber immerhin hielt er den Kontakt in einer Weise aufrecht, dass ich ihn unmöglich vergessen konnte. Wenn er einfach seiner Wege gegangen wäre, hätte sich das alles bestimmt nicht so übel entwickelt.
Ich sah ihn erst zu Beginn der neuen Saison wieder. Das war im April 1940, der Krieg in Europa lief auf vollen Touren, und Dizzy – Dizzy startete den nächsten Versuch, seine ramponierte Karriere wiederzubeleben. Als ich in der Zeitung las, dass er einen neuen Vertrag mit den Cubs unterschrieben hatte, blieb mir beinah das Salami-Sandwich im Hals stecken. Wen wollte er eigentlich verarschen? «Mein Wurfarm bringt’s nicht mehr wie früher», sagte er, aber, Gottchen, er liebe das Spiel nun mal viel zu sehr, um es nicht noch mal zu versuchen. Na schön, Dummbeutel, dachte ich, als ob mich das noch interessieren würde. Wenn du dich vor der ganzen Welt lächerlich machen willst, ist das deine Sache, aber erwarte bloß kein Mitleid von mir.
Und dann, völlig unerwartet, tauchte er eines Abends wieder bei mir im Club auf und begrüßte mich wie einen verlorengeglaubten Bruder. Dean war kein Trinker, es kann also nicht der Alkohol gewesen sein, der ihn so handeln ließ; jedenfalls strahlte er bei meinem Anblick und begann gleich, mir kräftig Honig ums Maul zu schmieren. Vielleicht glaubte er immer noch, dass wir uns kennen müssten, vielleicht hielt er mich für irgendein hohes Tier, ich weiß es nicht, auf alle Fälle war er absolut entzückt, mich zu sehen. Wie soll man so einem Menschen widerstehen? Ich hatte alles getan, meine Gefühle für ihn auf Eis zu legen, und jetzt kam er mir so freundlich, dass ich einfach vor seinem Charme das Handtuch werfen musste. Schließlich war er noch immer der große Dean, mein Alter ego und einfältiger Bruder im Geiste, und kaum fing er an, so mit mir zu reden, tappte ich wieder in die alte Falle meiner Besessenheit.
Mein Stammkunde wurde er nicht, das wäre zu viel
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