Mrs Murphy 02: Ruhe in Fetzen
Harry jedes Jahr bewusst, dass das Leben einmal zu Ende gehen würde. Vielleicht nicht das Leben an sich, wohl aber ihr eigenes. Es gab einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss. Sie war noch nicht ganz in der Mitte, aber es gab schmerzliche Hinweise, dass sie nicht mehr fünfzehn war. Verletzungen brauchten länger, bis sie heilten. Erfreulicherweise verfügte sie über mehr Energie als in ihrer Teenagerzeit; was sich aber am meisten verändert hatte, war ihr Verstand. Sie war gerade lange genug auf der Welt, um Ereignisse und Menschen einer zweiten und dritten Betrachtung zu unterziehen. Sie ließ sich nicht leicht beeindrucken oder zum Narren halten. Auch aus diesem Grund fand sie die meisten Filme sterbenslangweilig. Sie hatte Varianten der Handlung meist schon zuvor gesehen. Die Filme fesselten eine neue Generation von Fünfzehnjährigen, aber Harry konnte nichts damit anfangen. Was sie fesselte, waren gut geleistete Arbeit, Lachen mit Freunden, ein stiller Ritt auf einem Pferd. Sie hatte sich nach der Scheidung aus dem Wirbel des gesellschaftlichen Lebens zurückgezogen – kein großer Verzicht, aber sie musste erschüttert feststellen, wie wenig eine alleinstehende Frau galt. Ein alleinstehender Mann war ein Gewinn, eine alleinstehende Frau eine Last. Weil die verheirateten Frauen sie fürchteten, vermutete Susan.
Wenn es Fair auch an Geld fehlte, an Prestige in seinem Beruf fehlte es ihm nicht, und so hatte er Harry zu Banketten, langweiligen Abendessen bei Pferdezüchtern und noch langweiligeren Abendessen in Saratoga geschleppt. Es war immer dieselbe Parade von gekonnt gelifteten Gesichtern, gutem Bourbon-Whiskey und abgedroschenen Geschichten. Sie war froh, dass sie das hinter sich hatte. Boom Boom konnte das alles haben. Und Fair konnte Boom Boom auch haben. Harry wusste nicht, warum sie neulich so wütend auf Fair gewesen war. Sie liebte ihn nicht mehr, aber sie hatte ihn gern. Wie sollte man einen Mann nicht gernhaben, den man seit dem ersten Schuljahr kannte und den man auf den ersten Blick gemocht hatte? Deswegen ging es ihr gegen den Strich, dass er von Boom Boom so verblendet war. Wenn er eine vernünftige Frau fände, eine wie Susan, wäre sie erleichtert. Boom Boom würde so viel von seiner Energie und seinem Geld schlucken, dass am Ende seine Arbeit darunter leiden würde. Er hatte sich seine Praxis in jahrelanger Mühe aufgebaut. Boom Boom könnte sie im Ablauf eines einzigen Jahres ruinieren, wenn er nicht aufwachte.
Der süßliche Geruch von Kieferspänen betörte ihre Sinne. Harry griff zum Hörer des Wandtelefons. Sie wollte Fair anrufen und ihm sagen, was sie wirklich dachte. Dann hängte sie ein. Was brächte das schon? Er würde nicht auf sie hören. Menschen in seiner Situation hören nie auf andere. Sie müssen von allein aufwachen.
Sie verteilte frische Streu in den Boxen.
Mrs Murphy inspizierte den Heuboden. Simon, der fest schlief, hörte es nicht, wie sie auf Zehenspitzen um ihn herumschlichen. Er hatte ein altes T-Shirt von Harry nach oben geschleppt und dann einen Heuballen ein Stück ausgehöhlt. Simon lag zusammengerollt auf dem T-Shirt in der Kuhle. Mrs Murphy ging auf die Südseite des Heubodens. Die Schlange lag im Winterschlaf. Bis zum Frühling würde nichts sie aufwecken. Die Eule ganz oben schlief auch. Zufrieden, weil alles war, wie es sein sollte, kletterte Mrs Murphy die Leiter wieder hinunter.
»Tucker!«, rief sie.
»Was gibt’s?« Tucker trieb sich in der Sattelkammer herum.
»Hast du Lust auf einen Spaziergang?«
»Wohin?«
»Zu den Foxden-Weiden hinter der Yellow Mountain Road.«
»Warum dahin?«
»Paddy hat mich neulich auf die Idee gebracht, und heute ist die erste Gelegenheit, dass ich sie mir mal bei Tageslicht ansehe.«
»Okay.« Tucker stand auf, schüttelte sich und zockelte dann mit ihrer Freundin hinaus an die frische Luft.
Mrs Murphy erzählte Tucker von Paddys Gedanken, jemand könnte auf dem alten Forstweg hinter der Yellow Mountain Road geparkt und die Leichenteile in einem Plastiksack oder Ähnlichem auf den Friedhof geschleppt haben.
Bei den Weiden angelangt, hielt Tucker die Nase am Boden. Es war zu viel Regen gefallen und zu viel Zeit vergangen. Sie witterte Feldmäuse, Rehe, Füchse, jede Menge wilde Truthühner; sogar den schwachen Geruch eines Rotluchses nahm sie wahr.
Während Tucker die Nase am Boden hielt, ließ Mrs Murphy ihre scharfen Augen schweifen, aber da war nichts, absolut nichts, kein metallisches Blinken, kein
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