Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
herangepirscht hatte. Er stützte sich mit einer Hand auf dem Tisch und der anderen auf ihrer Stuhllehne ab, und dann beugte er sich so weit vor, dass sein Gesicht nur noch Zentimeter von ihrem entfernt war.
Ramsey war schon viele Jahre lang Richmonds bester Herumtreiberkumpan, und die beiden hatten sich weiter lustig die Hörner abgestoßen, lange nachdem sie verheiratet und Väter von mehreren Kindern geworden waren. Als er mit seiner Nase fast die ihre berührte, konnte Clarice sehen, dass das Weiße in Ramseys Augen von feinen hellroten Äderchen durchzogen war. Ihr fiel der schale Rumgeruch in seinem Atem auf.
Clarice fing an, sich auszumalen, wie der gestrige Abend begonnen hatte: Richmond war noch in seinem Büro an der Universität, wo er und Ramsey als Anwerber für das Footballteam arbeiteten. Da kam Ramsey hereingeschlurft und sagte irgendetwas wie: »Los komm, Richmond, gehn wir noch schnell auf einen Drink. Um zehn bist du zu Hause, dafür sorg ich. Bis zehn darfst du doch wohl noch raus? Oder stehst du wirklich so unter dem Pantoffel deiner Frau?«
Sie hatte keinen konkreten Beweis dafür, dass er der Impulsgeber für Richmonds nächtlichen Ausflug gewesen war, und sie wusste sehr wohl, dass Richmond ganz allein in der Lage war, auf dumme Gedanken zu kommen. Und doch verspürte sie das brennende Verlangen, Ramsey in sein dummes Gesicht zu schlagen und ihm zu sagen, er solle sich zurück an seinen Tisch verziehen, wo sein Sohn Clifton – der Sohn, der, seit er dreizehn war, im Gefängnis ein- und ausging, nicht der andere, der Klebstoff schnüffelte und sich in Frauenschuhläden unsittlich selbst betatschte – und seine Frau Florence mit den Hasenzähnen saßen und sich wütend anfunkelten.
»Ramsey«, sagte sie säuselnd, »wenn du mich weiter so umgarnst, dann versuch ich noch, dich Florence auszuspannen.«
Er lachte. »Baby, von dem Versuch halte ich dich bestimmt nicht ab. Aber erzähl Richmond nichts davon.«
»Ramsey«, erwiderte sie, »du bist so was von ungezogen«, und gab ihm einen Klaps auf die Hand, auf die Art, die Männer wie er als ein »Bitte, mach weiter, du heißer, schlimmer Kerl« interpretierten. Dann rückte er ihr noch weiter auf die Pelle und küsste sie auf die Wange. Sie gab ein mädchenhaftes Quietschen von sich, dessen Geräusch den Wunsch in ihr weckte, sich selbst zu treten. Nein, nicht nur sich selbst, sondern auch gleich ihre Mutter, dafür, dass sie ihr diese Art, auf männliche Aufmerksamkeit mit kindischer Leichtfertigkeit zu reagieren, so fest eingetrichtert hatte, dass sie zu einem automatischen Reflex für sie geworden war.
Sie gab Ramsey noch einen Klaps auf die Hand, aber diesmal gestattete sie sich, ihre wahren Gefühle in die Geste einzuschmuggeln. Er stieß ein ziemlich ernst gemeintes »Autsch!« aus und zog hastig seine Hand zurück, bevor er zu Richmonds Tischende hinüberging. Als sie sah, wie Ramsey sich die Fingerknöchel rieb, ließ ihr pochender Kopfschmerz ein klein wenig nach.
Ramsey zog sich einen Stuhl an Richmond heran, und die beiden begannen, sich gegenseitig ins Ohr zu flüstern. Sie hörten nur damit auf, um von Zeit zu Zeit in schallendes Gelächter auszubrechen. Clarice konnte sich den Inhalt dieses ausgelassenen Gesprächs lebhaft vorstellen, und ihre Stimmung wurde wieder aggressiver. Sie nahm eine Gabel in die Hand und wirbelte sie mit dem linken Daumen und Zeigefinger wie einen Cheerleaderstab herum. Sie dachte an das Gefühl der Genugtuung, das sie verspüren würde, wenn sie zur anderen Tischseite ginge und Richmond diese Gabel in die Stirn rammen würde. Sie malte sich den verdutzten Ausdruck aus, der sich auf seinem Gesicht breitmachen würde, wenn sie ihn, damit sie mehr Halt bekäme, am Kinn packen und die Gabel dann um hundertachtzig Grad gegen den Uhrzeigersinn herumdrehen würde. Diese Fantasie fühlte sich so gefährlich gut an, dass sie sich vorsichtshalber lieber zwang, die Gabel wieder zurück auf den Tisch zu legen. Erneut versuchte sie, einfach wegzusehen.
Dann wurde ihr Augenmerk auf die Mitte des Tisches gezogen, und sie bemerkte erstmals die Tischdecke. Offenbar hatte das Diner ein neues Logo. In der Mitte ihrer Tischdecke, so wie auf allen anderen im Raum, bildete ein Gewinde aus Früchten und Gemüse den Schriftzug » All-You-Can-Eat «. In dem Kranz aus Obst und Gemüse prangten glänzende rote Lippen zwischen denen eine hellrosa Zunge herausspitzte.
Clarice konnte ganz deutlich Little Earls geschmackloses
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