Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
Königin der Amazonen. Ich riskierte Prügeleien mit Männern, die zweimal so groß und zehnmal fieser waren als ich. Ich machte Sachen, die mir einen ziemlich üblen Ruf einbrachten, und ich machte diese Sachen nicht nur einmal. An dem Morgen, als ich zum ersten Mal meine tote Mutter sah, akzeptierte ich genauso, dass ich eben noch eine Besonderheit von ihr geerbt hatte, und plauderte einfach mit ihr über einer Schale Trauben, anstatt schreiend davonzulaufen.
Doch ich kenne die Wahrheit über mich selbst. Ich bin nie furchtlos gewesen. Sollte ich das je geglaubt haben, trieb mir die Mutterschaft diesen Mythos umgehend aus. Trotzdem flüsterte mir, wann immer die Logik es gebot, wegzurennen, eine leise Stimme ins Ohr: »Du bist in einem Platanenbaum geboren.« Und im guten wie im schlechten Sinne hatte mich diese Stimme immer dazu gebracht, allem standzuhalten.
3
Clarice und Richmond Baker nahmen an den gegenüberliegenden Enden des Tischs am Fenster in Earl’s All-You-Can-Eat Platz und warteten auf die Ankunft ihrer vier Freunde. Das Diner war nur einen kurzen Fußweg von der Calvary-Baptist-Kirche entfernt, und sie waren immer die ersten, die zum Abendessen nach dem Kirchgang dort ankamen. Odette und James Henrys kleine Landkirche, die Holy-Family-Kirche, war am weitesten vom All-You-Can-Eat entfernt, aber James hatte als Polizist einen ziemlich rasanten Fahrstil und keine Angst, Strafzettel wegen überhöhter Geschwindigkeit zu bekommen. Also trafen sie normalerweise als Nächste ein. Barbara Jean und Lester Maxberry waren Mitglieder der prachtvollen First Baptist, der Kirche der reichen Leute. Sie blickte von ihrem erhöhten Standort an der Main Street auf Plainview herab und war dem Diner am nächsten, aber Lester war fünfundzwanzig Jahre älter als die anderen aus der Gruppe und kam nur langsam voran.
Clarice erhaschte ihr Spiegelbild im Fensterglas und dachte sich, dass sie und Richmond aussehen mussten wie ein leuchtender Pfau und seine glanzlose Partnerin. Sie trug ein vom Hals bis zu den Knien reichendes, gut geschnittenes, beiges Leinenkleid. Richmond hatte sich zurückgelehnt und winkte gerade Freunden an einem anderen Tisch zu. In dem hellgrauen Sommeranzug, den Clarice ihm am Abend zuvor rausgelegt hatte, zusammen mit seinem Lieblingshemd, einem baumwollenen Button-down in lebhaftem Ultramarinblau, zog er die gesamte Aufmerksamkeit auf sich.
Richmond hatte schon immer gern gewagte Farben getragen. Er hatte die Schönheit eines Ken, so dass die Frauen in seinem Leben, zunächst seine Mutter und dann Clarice, dem Drang, ihn in leuchtende Farben zu stecken und mit ihm zu prahlen, einfach nicht widerstehen konnten. Anlässlich Richmonds erstem Date mit Clarice hatte seine Mutter ihren Teenagersohn mit einem pfirsichfarbenen Sakko mit weißen Bordüren am Revers herausgeputzt. In einer solchen Aufmachung wäre jeder andere Junge der Stadt ausgelacht und als Tucke beschimpft worden – immerhin waren das noch die Sechziger. Aber die Art, wie Richmond den Weg zu Clarices Haus entlangschlenderte, ließ seinen Aufzug so männlich wirken wie ein Hirschgeweih. Clarice dachte oft an diesen lässigen, kraftvollen Gang zurück, den er hatte, bevor sein Bein durch die Operationen steif geworden war. Es war, als bestünde er ausschließlich aus drahtigen Muskeln, die von straffen Bändern zusammengehalten wurden.
Zufällig hatte Clarice einen ebenfalls pfirsichfarbenen Rock für dieses erste Date ausgewählt. Dieser Rock passte so perfekt zu Richmonds Sakko, dass jeder, der sie in der Stadt sah, später annahm, sie hätten sich abgesprochen. Clarice und ihre Mutter hatten zwischen den Vorhängen hindurchgespäht und gesehen, wie er die Veranda betrat. Ihre Mutter, die genauso aufgeregt war wie Clarice selbst, hatte ihre Finger so fest in den Arm ihrer Tochter gebohrt, dass Clarice sich schließlich losmachen musste. Die ganze Zeit über hatte ihre Mutter geschwärmt, dass ihre zusammenpassenden Ensembles ein Zeichen dafür seien, dass Clarice und Richmond füreinander bestimmt waren.
Clarice aber hatte längst alle Zeichen gefunden, die sie brauchte. Der junge Richmond besaß ein hübsches, fast schon schönes Gesicht mit einem kleinen, wohlgeformten Mund und langen Wimpern. Ein Footballstipendium erwartete ihn an der Universität am anderen Ende der Stadt. Er war der Sohn eines Pfarrers, sein Vater war der Pastor ihrer Kirche gewesen, bevor er eine größere Gemeinde jenseits der Staatsgrenze in Louisville
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