Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
Händchen darin erkennen. Er hatte das freundliche Gemüt seines Vaters geerbt, aber nicht viel von seinem guten Geschmack. Sie ahnte, dass Big Earl, obwohl er nicht mehr der rechtmäßige Besitzer des Restaurants war, kaum begeistert von dieser Neuerung sein würde. Diese scheußlichen Lippen und dieses Obst und Gemüse – besonders die anzügliche Kirsche mit den beiden Gurken, die das Wort »all« ergaben – würde die eher konservativen Stammgäste in Aufruhr versetzen. Clarice war dankbar, dass ihr Pastor kein regelmäßiger Gast hier war; sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie er zu einem Boykott gegen das Diner aufrufen würde.
Sie konnte kaum glauben, dass ihr die neuen Tischdecken nicht schon in dem Augenblick, als sie den Laden betreten hatte, aufgefallen waren. Am Tag zuvor, als sie zusammen mit Odette und Barbara Jean an genau diesem Tisch zu Mittag gegessen hatte, waren sie definitiv noch nicht dort gewesen. Das All-You-Can-Eat war ihr so vertraut, und es hatte sich über die Jahre so wenig verändert, dass sie es normalerweise sofort bemerken würde, wenn auch nur ein Stuhl nicht an seinem Platz stand. So sehr hatte Richmond sie also aus dem Konzept gebracht.
Clarice und ihre Freunde trafen sich nun schon seit fast vierzig Jahren an diesem Fenstertisch in Earl’s Diner , ungefähr seit der Zeit, als sie den Spitznamen »Die Supremes« bekommen hatten. Little Earl hatte damals heftig für sie alle drei geschwärmt und sein Bestes getan, sie mit Cola-Freigetränken und Chicken Wings zu beeindrucken. Clarice war sich sicher, dass diese Strategie, wäre er ein bisschen hartnäckiger gewesen, letztendlich zumindest bei Odette Wirkung gezeigt hätte. Dieses Mädchen war einfach immer hungrig. Selbst als sie noch ein Kind gewesen war, hatte Odette bereits wie ein erwachsener Mann gegessen.
Clarices früheste Erinnerung an Odette bestand darin, ihr zugesehen zu haben, wie sie sich im Kindergarten Süßigkeiten in den Mund stopfte und die klebrigen Händchen dann an ihrem Kleid abwischte. Odette trug immer grässliche selbstgenähte Kleider mit schiefen Nähten und Mustern, die nicht zusammenpassten. Clarice konnte sich noch immer an ihre erste Unterhaltung erinnern. Da Odettes Mädchenname Jackson lautete und Clarices Jordan, führte die alphabetische Reihenfolge dazu, dass sie fast ihre gesamte Schulzeit lang nebeneinander saßen. Als Odette ihr eines Tages während des Unterrichts über den Tisch hinweg ein Stück Toffee reichte, sagte Clarice zu ihr: »Das ist das hässlichste Kleid der Welt.«
Odette erwiderte: »Meine Großmutter hat es für mich gemacht. Sie kann richtig gut nähen, aber sie ist blind.« Sie steckte sich noch ein Bonbon in den Mund und fügte hinzu: »Und das ist nicht das hässlichste Kleid der Welt. Weil das hab ich morgen an.«
Und so war es dann auch. Und seither waren sie Freundinnen.
Little Earls Frau, Erma Mae, kam mit dem Hintern voran durch die Schwingtür aus der Küche und trug ein Tablett mit Essen herein. Erma Mae hatte den größten Kopf, den Clarice je bei einer Frau gesehen hatte. Als sie noch auf der Highschool waren, brachte ihr dieser riesige, runde Kopf, zusammen mit ihrem großen, knochigen Körper und der flachen Brust, den Spitznamen Lollipop ein. Die Ehe mit Little Earl und der freie Zugang zu all dem guten Essen, hatte sie von den Hüften abwärts in die Breite gehen lassen, also war ihr der Spitzname nicht geblieben. All die zusätzlichen Kilos waren vermutlich nicht gerade gesund für sie, aber sie bildeten wenigstens ein Gegengewicht zu diesem Riesenkopf, was Erma Mae, wie Clarice annahm, etwas Trost brachte.
Erma Mae stellte das Tablett auf den Büffettisch und ließ sich dann auf einen der beiden Holzschemel neben den glänzenden Edelstahl-Warmhaltetischen fallen, von denen aus sie und ihr Mann ihren Herrschaftsbereich Tag für Tag überwachten. Nachdem sie sich gesetzt hatte, schaute sie zu Clarice hinüber und winkte ihr freundlich zu.
Als Clarice zurückwinkte, stand Erma Mae auf und vollführte eine kleine Pirouette, um ihre neue Schürze vorzuführen, die genau wie die Tischdecken das grässliche Lippenlogo zierte. Clarice formte ein »Ganz toll!« mit den Lippen und dachte dabei: Ich hoffe, du siehst zu, Richmond. So lügt man nämlich überzeugend.
Erma Mae rief »Belinda!«, und ihre Tochter kam aus der Küche gesaust. Erma Mae zeigte auf Clarice und Richmond, und Belinda schnappte sich einen Krug mit Eistee und kam an ihren Tisch
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