Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
eingeschüchtert hatte. Und Barbara Jean, mit ihrem Wohlstand, ihrer Bürgerlichkeit und ihrer wohltätigen Großzügigkeit, war so weit davon entfernt, das traurige, hoffnungslose Leben ihrer Mutter nachzuleben, wie man es sich nur vorstellen konnte.
Clarice war die Einzige, die strikt dem Beispiel ihrer Mutter folgte. Sie war eine wichtige Stütze ihrer Kirchengemeinde geworden, die um jeden Preis darum bemüht war, getreu nach der Bibel zu leben. Als sie ihre Kinder bekam, erst Ricky, dann Abe und schließlich die Zwillinge Carolyn und Carl, hatte Clarice dafür gesorgt, dass sie immer die saubersten, bestgekleideten und höflichsten Kinder der Stadt waren. Sie hatte stets die Rolle der Dame gespielt, selbst dann, wenn jedes Fitzelchen von ihr sich danach gesehnt hatte, zu fauchen, zu fluchen und zu kämpfen. Und zu allem Überfluss hatte sie, sobald sie erwachsen war, das Abbild ihres Vaters geheiratet.
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Clarice Jordan Baker war das erste schwarze Kind gewesen, das in der Universitätsklinik von Plainview zur Welt gebracht wurde. Die Zeitungen für Farbige berichteten bis nach Los Angeles davon. Clarices Mutter, Beatrice Jordan, bewahrte die Zeitungsausschnitte dieser frohen Botschaft in goldenen Zierrahmen auf und platzierte sie strategisch überall im Haus. Kein Gast konnte am Esstisch der Jordans Platz nehmen oder ihre Toilette benutzen, ohne darüber in Kenntnis gesetzt zu werden, dass die Familie einst Geschichte geschrieben hatte. Der Ausschnitt über dem Kamin im Wohnzimmer stammte vom Titelblatt des Indianapolis Recorder . Die Bildunterschrift lautete: »Die neue schwarze Familie.« Der Artikel über Clarices Geburt verkündete »die neue Stellung der schwarzen Familie in den gemischtrassigen 1950er-Jahren«. Doch ihr Vater, der Rechtsanwalt Abraham Jordan, fehlte auf dem Foto.
Beatrice arbeitete als Pflegehelferin an der Universitätsklinik. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass ihr Kind einmal dort geboren werden würde, statt im eine Stunde entfernten Krankenhaus für Farbige in Evansville, wo alle anderen aus Leaning Tree ihre Kinder zur Welt brachten. Zu ihrem Glück fiel diese verrückte Idee mit der Übernahme der Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie durch Dr. Samuel Snow zusammen, der aus New York City an die Indiana State University in Plainview gewechselt war. Dr. Snow setzte voraus, dass der Zugang zur Geburtsabteilung, wenn er die Leitung übernähme, nicht mehr durch Rassenzugehörigkeit eingeschränkt würde. Die Universität willigte in seine Forderung ein, in dem Glauben, er würde diesen New Yorker Spleen schon überwinden, sobald er sich in Southern Indiana eingelebt und verstanden und zu schätzen gelernt hätte, wie die Dinge dort liefen. Aber Dr. Snow rückte nicht von seiner Haltung ab, und Beatrice, die bis in die fortgeschrittene Schwangerschaft hinein arbeitete, sorgte dafür, dass sie ihm wiederholt über den Weg watschelte. So gab sie ihm die Möglichkeit, zu glauben, er habe sie für die ehrenvolle Aufgabe, am Uniklinikum Geschichte zu schreiben, auserwählt – nicht anders herum.
In Beatrices Schilderung wurden die leichten Komplikationen bei Clarices Geburt zu grauenvollen Stunden ausgeschmückt, während derer ihr Leben und das des Babys auf Messers Schneide standen. Immer wenn Beatrice bei ihrer Tochter Widerstand verspürte, die Lebensweisheiten ihrer Mutter anzuerkennen, kam sie ihr mit der Geschichte davon, dass ihr gutes Urteilsvermögen der alleinige Grund dafür sei, dass sie beide nicht im schlecht ausgestatteten Krankenhaus von Evansville gestorben waren. Clarice bekam diese Geschichte in ihrer Kindheit so oft zu hören, dass sie ihr so geläufig wurde wie Aschenputtel oder Der Rattenfänger von Hameln . Wenn Beatrice die ausführliche Version der Tortur erzählte, die sie durchgemacht hatte, als sie Clarice das Leben schenkte, verwendete ihre Mutter oft überreife Früchte als Requisiten. Für die Kurzversion presste sie sich bloß den Handrücken an die Stirn und seufzte: »Es war das reinste Grauen.«
Dem Tode gerade erst von der Schippe gesprungen hin oder her saß ihre Mutter eine Stunde nach Clarices Geburt perfekt geschminkt, frisiert und bekleidet mit einem Bademantel aus Satin im Bett. Sie war bereit für die Fotografen, die sich versammelt hatten, um von der vorbildhaften farbigen Mittelklassefamilie Fotos zu schießen. Aber Mr Jordan war nirgends aufzufinden gewesen. Als man ihn schließlich in einer Besenkammer ausfindig machen
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