Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
Tischdecke, verziert mit silbernen Sternen, Monden und Tierkreiszeichen. In der Mitte des Tischs thronten ein Stapel Tarotkarten und eine Kristallkugel vom Format einer großen Cantaloupe-Melone. Ein vierzig Jahre altes, gerahmtes, acht mal zehn Zoll Foto, das Minnie McIntyre aufgedonnert mit Pailletten und Federn als Zauberassistentin von Carl dem Großartigen, ihrem ersten Mann, zeigte, lehnte hinter den Tarotkarten und der Kristallkugel an der Wand. Von diesem Tisch im hinteren Bereich des All-You-Can-Eat aus betrieb Minnie ihr Wahrsagergeschäft. Sie behauptete, dass Carl nach seinem Tod die Rollen mit ihr getauscht habe und nun als ihr Assistent und spiritueller Führer wirke.
Trotz meiner Begegnung mit einer Reisenden aus dem Jenseits noch am selben Morgen, glaubte ich keine Sekunde daran, dass Minnie irgendwelche derartigen Verbindungen besaß. Das lag nicht nur daran, dass ihre Vorhersagen berühmt für ihre Abwegigkeit waren. Ich wusste ja selbst, wie sehr die Toten mit ihren Aussagen danebenliegen konnten – von den jahrelangen Klagen meiner Mutter darüber, dass ihre Geister ihr oftmals völligen Unsinn auftischten. Die Sache mit Minnie war die, dass ihre Vorhersagen immer eine perfide Note hatten, so dass man annehmen musste, es gehe ihr eigentlich eher darum, als Prophezeiungen getarnte Beleidigungen loszuwerden und ihre naiven Kunden zu manipulieren, statt in einen Dialog mit dem Jenseits zu treten.
So ungenau und hinterlistig ihre Angaben auch sein mochten, Minnie war bereits seit Jahren im Geschäft und hatte noch immer einen stetigen Zustrom von Kunden. Darunter waren auch viele, von denen man annahm, dass sie es eigentlich besser wissen mussten. Clarice wurde nicht gern daran erinnert, aber auch sie war einmal unter diesen Kunden gewesen.
In einem Anfall von Muffensausen eine Woche vor der Hochzeit mit Richmond, ging Clarice zu Miss Minnie, um sich die Tarotkarten legen zu lassen. Big Earls erste Frau war damals noch am Leben, und Minnie hatte ihn sich noch nicht geschnappt. Also schleppte Clarice Barbara Jean und mich zu dem heruntergekommenen Haus an der Umgehungsstraße, wo Miss Minnie damals die Zukunft zu deuten pflegte. Clarice hatte uns zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet, denn zu einer Wahrsagerin zu gehen war für ihre Kirchengemeinde nur um Haaresbreite davon entfernt, mit dem Satan höchstpersönlich im Bunde zu sein. Innen in dieser scheußlichen Baracke atmeten wir den Geruch von Jasminräucherstäbchen ein und lauschten, wie Miss Minnie Clarice prophezeite, dass ihre Ehe glücklich verlaufen werde. Da sie allerdings auch den Eremiten und die drei der Kelche gezogen hatte, werde sie sich leider als unfruchtbar erweisen und außerdem in ihrem Hochzeitskleid fett aussehen. Später, während ihrer ersten Schwangerschaft, war Clarice dann krank vor Sorge. Und jahrelang brachte sie es nicht übers Herz, sich ihre Hochzeitsfotos anzusehen, die entgegen aller Befürchtungen sehr hübsch geworden waren. Vier gesunde Kinder und drei Jahrzehnte später war Clarice immer noch nicht gewillt, Minnie zu verzeihen.
Clarice deutete mit dem Zeigefinger zu Miss Minnies Tisch hinüber und sagte: »Stiefmutter hin oder her, Little Earl sollte dieser alten Hochstaplerin nicht erlauben, hier zu sein. Es muss doch Gesetze geben gegen so was. Das ist schlicht und einfach Betrug.« Sie nahm einen Schluck Eistee und verzog den Mund. »Zu süß«, sagte sie.
Ich machte mich auf einen von Clarices Vorträgen über Minnie McIntyres Untugenden gefasst. Wenn Clarice in einer solchen Stimmung war, dann beanstandete sie gern die Fehler, moralischer oder sonstiger Art, von allen, außer denen des Trottels im blauen Hemd am anderen Tischende. Meine Freundin hatte eine Vielzahl von Talenten. Sie spielte Klavier wie ein Engel, sie konnte kochen, nähen, singen und sprach Französisch. Außerdem war sie eine so liebenswürdige und freigiebige Freundin, wie man es sich nur wünschen konnte. Aber sie hatte eben kein großes Talent dafür, den Fehler dort zu suchen, wo er wirklich lag.
Clarices Kirche war ihr bei diesem Charakterzug keine große Hilfe. Die Calvary-Baptist-Kirche entsprach zwar nicht voll und ganz der Pfingstbewegung, aber dennoch war sie die Kirchengemeinde der Stadt, die am vehementesten auf die Bibel pochte und ihre Lehre am zornigsten vertrat. Also waren Sonntage schon schlimm genug für Clarice, auch ohne Richmonds schlechtes Benehmen und ohne, dass im Gespräch Miss Minnies Name fiel. Der
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