Muckefuck
holten das Wenige heraus, hielten es schonend fest, indem sie beiseitetraten, um den Freundinnen diesen Anblick zu gewähren. Alle Augen funkelten. Und schwer stießen die Mädchen süßen Atem in die dämmerige, heustauberfüllte Luft.
Doch, da: Begann der Stall zu schwanken? Es bebte und toste, und nun jagte auf nahen Schienen der D-Zug nach Lehrte vorüber, zwischen Bude siebzehn und achtzehn, donnernd, metallen, und schüttelte das Wenige aus feuchtwarmen Fingern. Es zog sich zurück wie die Schnecke ins Haus. Ich knöpfte zu. Häschen ließ die Röcke fallen. Der Zug donnerte westwärts. Als wieder Stille eintrat, hörten wir draußen von weither einen Pfiff: »Mariechenkommrunter-die Haustüristzu.« Es war Ede, mein Vater, der mich so zum Abendessen rief.
Karl geht den weißsandigen Gartenweg entlang, den rote und braune Klinker einfassen. Hinter ihm liegt teerpappeschwarz das Kaninchenhaus mit scharf riechenden westfälischen Rammlern und albinohaften Weißen Wienern -, er weiß das von früheren Besuchen – heute hat er nichts wahrgenommen – liegt die Anatomieburg, voll von süß duftenden, klebrigen Mädchen, deren Hände tasteten.
Karl spürt noch zartknochige Finger am Fleisch, am Bauch. Das wundert ihn. Er geht den Weg entlang, über den heute Nachmittag er, Gigi, Ingrid, Häschen in kindlicher, feierlicher Taufprozession zogen, eine mit Wasserbekleckerte Zelluloidpuppe zwischen sich. Um Häschens dicke Handgelenke zogen sich schmale Falten, bläulich eingebettet in orangenes Fett.
Karl sieht den bedeckten, milchigen Himmel und weiß, es ist achtzehn Uhr sechsundvierzig, und hinter ihm, hinter dem Hasenstall, auf den blanken Gleisen ist der Gegenzug fällig. Von Lehrte her, also in östlicher Richtung, zum Kopfbahnhof in der Stadt hin, wo ein fester Prellbock und vorher schon Vor- und Hauptsignale dem Ungetüm einer 2-C-2-Lokomotive von Kraus-Maffey ein vorläufiges, nach Osten hin sogar endgültiges Ende setzen. Jene Reisenden, die weiter wollen, nehmen Droschke, Stadtbahn oder Bus zu einem der anderen Kopfbahnhöfe, von denen aus Züge in die übrigen Himmelsrichtungen abgehen.
Karl bleibt stehen auf dem Gartenweg und dreht sich um, und da ist der Zug auch schon heran, tost vorbei hinterm Kaninchenhaus auf den blanken Gleisen. Karl freut sich. Bei Bude siebzehn oder achtzehn, wenn er die Strecke überschreitet, freut er sich jedes Mal, wie blank die Oberfläche der Gleise leuchtet, ein silbernes Doppelband, von rollenden und drückenden Rädern ins Rostrot hineingeschliffen.
Der Zug ist vorüber. Noch immer kein Anzeichen, dass die Mädchen ihr durchgeschütteltes Karnickel- und Anatomieheim verlassen möchten.
Karl sieht noch, dass der Heizer auf der 2-C-2 das Kesselluk aufreißt. Rote Lohe wabert zum niedrigen, zugestrichenen Himmel. Wird unter den Wolken fortgezerrt von der dahinfliegenden Lokomotive. Gegenzug. Das Wolkendach, so scheint es Karl, ist aufgerissen. Menschlein sieht ein brandrotes, in den Himmel gesengtes Loch, einen glühenden Schlitz. Und möchte der Heizer sein auf der2-C-2, der schwarz glänzende Kohlenbrocken ins Kesselfeuer füttert.
Der Gegenzug war vorbei, der Flammenschein seines Kesselfeuers erloschen. Wiederum klang Edes Pfiff: »Mariechenkommrunter-dieHaustüristzu.«
Ich ging.
Minnamartha stand am Küchenherd. In schwerer Bratpfanne schleuderte sie die letzten Kartoffelpuffer, um damit einen Turm röscher Pfannenprodukte zu vollenden, der neben dem Herd auf einem Steingutteller gewachsen war. Ede las die Abendzeitung, essbereit am Tisch lümmelnd, und sagte: »Wo bleibst du denn nur?«
Auch er, das war mir bekannt, erwartete keine Antwort auf solche Fragen. Ich nahm Platz. Ede legte die Zeitung fort, und Minnamartha trug den Pufferturm auf. Groben Zucker darüber! Und aus der braunen Tasse Muckefuck Marke Kathreiner mit viel, viel Milch.
Ede zeigte sich im Puffervertilgen selbst mir überlegen, er brachte es in kürzester Zeit auf vier große, ich nur auf drei. Minnamartha lag, mit nur einem, um Runden zurück. Der halbe Turm blieb übrig. Zum kalt Essen.
In den Zwanziguhrnachrichten sagte der Sprecher, dass die Saar wieder einmal heimkehrte ins Reich. Abgesehen von einer kurzen Feier, war am nächsten Tag schulfrei.
Es war nötig, auf dem Weg zur Schule an Sturmführer Gallerts Fahnenmast vorbeizugehen, der am Tag der Saarbefreiung mit dem neudeutschen roten Tuch beflaggt war. Auf rundem weißen Feld trug es in der Mitte sein schwarzes Runenzeichen.
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