Mueller hoch Drei
Sommerschlussverkauf.
Endlich rollten wir in den Bahnhof. Ebenso wie Paula trug ich meine Sachen in einem der Wanderrucksäcke meiner Eltern, wobei aus meinem Rucksack nichts, aus Paulas aber die Dompteuse hervorsah, als müsste sie kontrollieren, ob uns jemand folgte. Der Zug stoppte. Nach meiner letzten Rechnung hatten wir etwa fünfundzwanzig Sekunden Zeit, um von Gleis vierzehn zu Gleis zwei zu rennen.
Der Start glückte noch ganz gut. Piet Montag war beim Langsamerwerden des Zuges wach geworden, hatte kurz an einer Armlehne geknabbert und zeigte jetzt Bereitschaft, irgendwohin zu wollen, egal wohin, nur möglichst schnell. Auf dem Gang drängten wir uns mit dem Ruf »Achtung, bissiger Hund!« an einer Seniorenreisegruppe vorbei, und dann schossen wir, würde mein Vater sagen, über den Bahnsteig Richtung Treppe. Doch da passierte das Malheur!
Ich hatte nämlich beschlossen, den direkten Weg zu nehmen, der knapp links an einem Mülleimer vorbeiführte. Piet Montag aber zog es vor, die Treppe in einer leichten Kurve anzusteuern, die ein wenig rechts vom Mülleimer verlief. Beide passierten wir den Mülleimer in vollem Tempo – und wer jetzt glaubt, dabei könne doch nichts passieren, der glaubt das nur, weil ich noch nicht erwähnt habe, dass Piet Montag und mich eine Lederhundeleine verband, die wir zusammen mit einem Halsband am Morgen gekauft hatten.
Was ich nun beim Aufprall der straff gespannten Leine auf den Mülleimer durch das etwas größere Körpergewicht dem Hund voraushatte, machte Piet Montag durch seine momentan größere Geschwindigkeit wett. Ein Freund der Physik hätte sicher seine Freude daran gehabt, die entsprechenden Werte in eine Rechnung einzusetzen. Deren Ergebnis erfuhr ich aber auch so: Es war gleich null! Das heißt, urplötzlich saß ich auf dem Allerwertesten, und mein rechter Arm bat dringend um ärztlichen Beistand.
Auch Piet Montag war es nicht gut ergangen. Seine Schwanzspitze war ausnahmsweise am weitesten vorne, dazu lag der Hund auf dem Rücken und machte Bewegungen mit den Pfoten, als wollte er am Himmel kratzen. Vielleicht um zu sehen, ob das Blau auch echt war.
Mein Himmelsblau verdunkelte sich derweil, da Paula über mich gebeugt stand und die Dompteuse ihr mit strengem Lateinblick über die Schulter schaute. »Keine Müdigkeit vorschützen!«, blaffte sie. »Hoch mit euch. Pennen könnt ihr in Berlin.«
Natürlich kamen wir zu spät. Das heißt, wir erreichten Gleis zwei etwa vier Minuten nach der planmäßigen Abfahrtszeit des Zuges. Da der aber eine Viertelstunde Verspätung hatte, bekamen wir ihn doch. »Ich weiß nicht«, sagte Paula, »warum die Leute so oft auf die Bahn schimpfen. Klappt doch alles ausgezeichnet.« Und während Piet Montag und ich unsere schmerzenden Stellen massierten beziehungsweise leckten, nickte die Dompteuse dazu.
Das letzte Teilstück nach Berlin verbrachten wir im Speisewagen, wo Paula sehr konzentriert ein Schnitzel aß, während ich meinen gemischten Salatteller ein bisschen aufräumte. Ich habe in Spannungssituationen nie Appetit, allenfalls auf Milchreis oder Götterspeise mit Multivitaminsaft. Vor Paula aber wollte ich mir keine Blöße geben, und daher tat ich, als würde ich essen. Natürlich hätte ich mir denken können, dass sie nicht darauf hereinfiel. Zwischen zwei Bissen sagte sie: »Iss anständig. Kommen harte Zeiten auf dich zu.« Dann bestellte sie noch ein Schnitzel, und das teilte sie sich mit dem Hund. Nachdem ich die Rechnung bezahlt hatte, besaßen wir noch knapp zwanzig Euro.
Wir erreichten Berlin am späten Nachmittag. Später Nachmittag in Neustadt bedeutet, die Menschen machen sich allmählich fertig fürs Bett. Später Nachmittag in Berlin bedeutet dagegen: Jetzt sind alle Berliner aufgestanden und denken heftig darüber nach, wie sie heute mal wieder die Nacht zum Tage machen sollen. Im großen Hauptbahnhof brauste und zischte und brummte und dampfte es nur so von der Energie der Berliner, und als geborener Neustädter kam ich mir vor wie ein Schaf, das irrtümlich in den Betriebsausflug eines Wolfsrudels geraten ist. Selbst Piet Montag, der doch noch gar keine Zeit gehabt hatte, ein so verschlafenes Mittelstadtschäfchen wie ich zu werden, wirkte ein wenig eingeschüchtert.
Ganz in ihrem Element war allerdings Paula. Schon auf dem Bahnsteig begann sie damit, vorsätzlich Leute anzurempeln, um sich dann über deren Blödheit zu beschweren. Offenbar war das ein Ritual, mit dem der Berliner nach
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