Mueller hoch Drei
Glück war ich damals in einem ansonsten eher mörderischen Feriencamp, so dass sich der größte Aufstand gelegt hatte, als ich zurück in meine Schulklasse musste. Dort wurde ich dann nur noch ganz wenig gemobbt. Tatsächlich kann ich niemandem übel nehmen, wenn er den Besitzer eines solchen Zimmers für verrückt erklärt. Ich verstehe sogar, wenn man das auf seine Nachkommen überträgt, obwohl es natürlich eine Ungerechtigkeit ist.
Das Arbeitszimmer meines Vaters ist vollgestopft mit seiner Sammlung misslungener Nachbauten. Es sind Tausende von ihm so genannter »Objekte«, die auf Regalen, in Kästen und Vitrinen lagern. Ich erklärte Paula, wie es zu der Sammlung gekommen war. Vom ersten Geld, das er mit dem Entwurf einer Seifenoper verdient hatte, kaufte mein Vater bei einem Straßenhändler eine Armbanduhr, der auch der größte Blödmann ansehen konnte, dass sie nicht von der berühmten Schweizer Firma stammte. Wahrscheinlich war sie in einer taiwanesischen Schwitzfabrik gefälscht worden. Sogar der Namenszug enthielt einen Schreibfehler.
Diese Uhr, die sich übrigens auch schwer damit tat, irgendeine Uhrzeit anzuzeigen, geschweige denn die richtige, band sich mein Vater ans Handgelenk und erklärte sie aus Spaß zu seinem Talisman. Doch es blieb nicht bei der falschen Uhr. Mein Vater hatte, wie man so sagt, Blut geleckt. Und seitdem sammelt er Dinge, die nachgeäfft und abgekupfert sind, wobei er diejenigen am liebsten hat, die am wenigsten aussehen wie das, wofür man sie halten soll.
Paula stand jetzt vor der Abteilung »Möchtegernbarbies« und gab kleine, erstaunte Laute von sich. Die Puppen sind allerdings auch die Hauptattraktion der Sammlung. Etwa hundert Plastikdamen stehen, sitzen, hocken oder lehnen hier eng gedrängt und wetteifern darin, wer am wenigsten wie sein Vorbild aussieht. Manche von ihnen müssen von Leuten entworfen worden sein, die niemals eine echte Barbie gesehen haben oder denen man sie durch eine Flüsterpost mit fünfzig Stationen beschrieben hat.
Sehr verschieden sind schon die Gesichter. Die echte Barbie ziert bekanntlich ein süßes Lächeln, das dazu verführen soll, ihr möglichst viele teure Barbiesachen zu besorgen. Ganz anders die Exemplare meines Vaters: Eine sieht aus, als hätte sie Bauchschmerzen, eine andere, als wünschte sie, alle hätten Bauchschmerzen. Eine guckt, als hätte sie versehentlich eine Matheprüfung bestanden, eine andere, als hätte sie sechs Richtige im Lotto, aber leider den Schein verloren. Wieder eine guckt, als hätte man ihr gerade den roten Knopf gezeigt, mit dem man die ganze Welt in die Luft sprengen kann.
Bemerkenswert sind auch ihre Kleider. Die Original-Barbie trägt nur maßgeschneiderte Designersachen. Die Kopien würden das wohl auch sehr gerne, und vielleicht wollten das auch ihre Hersteller, herausgekommen ist aber eine Mode, wie sie in schlechten Science-Fiction-Filmen oder in manchen Szene-Diskotheken getragen wird. Mit anderen Worten: Die Puppen sehen grauenhaft aus, bilden sich aber viel darauf ein.
Wer immer diese Sammlung bislang anschaute, bekam entweder einen Lachkrampf oder ästhetische Kopfschmerzen. Ganz anders Paula! Wie in sich selbst zurückgezogen stand sie vor den Plastikmonstern, voller Ergriffenheit und Ernst. Jedenfalls wagte ich nicht, sie anzusprechen. Schließlich sagte sie mit einer Stimme, die fast gläsern klang, den folgenden Satz: »Ach, sind die goldig!«
»Und was das Schönste ist«, platzte ich heraus, »sie gehören alle dir!«
Paula sah in meine Richtung, aber sie sah durch mich hindurch. Also legte ich nach. »Wer ohne Genehmigung der zuständigen Behörden seine Kinder verlässt, verliert alle Rechte an seinem Privateigentum. Du kannst dir also nehmen, was du möchtest.«
Paula machte ein Geräusch wie eine Katze, die sich von der Sonne den Bauch kraulen lässt. Und dann holte sie mit traumwandlerischer Sicherheit das mit Abstand grauslichste Stück der Sammlung aus dem Regal: eine besonders langbeinige Puppe mit einer bienenkorbförmigen Hochfrisur, die ein schwarzes Polyesterkittelchen mit falschem Pelzbesatz trug, dazu schwarze Schnürstiefel. Sie sah aus wie die perfekte Mischung aus einer Raubtierdompteurin und einer Lateinlehrerin. Und sie guckte einen an, als hätte man ihr die Peitsche gestohlen oder bei der Vokabelarbeit abgeschrieben.
Dieses kleine Monster setzte sich Paula auf die Schulter und grinste mich an. Ich grinste zurück. Wir sagten beide nichts, und einen Moment
Weitere Kostenlose Bücher