Mueller hoch Drei
geldgierige Zicke. Was sagst du dazu, Herr von Brüderchen?«
Schon um zu vermeiden, dass Paula demnächst auch meinen Charakter derart analysierte, nahm ich Pauline rasch in Schutz. »Nun komm! Wir wissen doch beide, wie übel das ist, von seinen eigenen Leuten im Stich gelassen zu werden. Da kann man doch verstehen, wenn sie sich an das klammert, was sie hat.« Dazu machte ich eine Klammerbewegung. »Der Spatz auf dem Dach«, wollte ich einigermaßen poetisch schließen, aber Paula schnitt mir den Vergleich ab.
»Quatsch! Wir liefern unserer großen Schwester eine bessere Zukunft auf dem Silbertablett, und gnädige Frau ziehen es vor, von Heuchelei und Erpressung zu leben. So sehe ich den Fall.«
Aber damit hatte sie doch unrecht! Tatsächlich hatten wir Pauline nichts zu bieten als ein bisschen Blutsverwandtschaft und einen Hund, mit dem man gelegentlich ein paar Euro machen konnte. Für eine ganze Menschenzukunft war das einfach zu wenig. Das sagte ich dann auch zu Paula.
Sie nickte. Und ich merkte, dass ich sie gar nicht hatte überzeugen müssen. Sie dachte selbst genauso. »Hast ja recht, Kleiner.« Und dann bestellte sie mir, typisch ältere Schwester, unaufgefordert noch ein Glas Multivitaminsaft.
Später saßen wir wieder unten am Hafen und sahen den Touristen beim Spaßhaben zu. Seit Stunden hatten wir nicht mehr miteinander geredet. Es stand fest, wir waren am Ende; aber keiner wagte es auszusprechen. Die Sonne schien, und die Segel der Bötchen flatterten lustig im Marsebyer Wind. Wer Kind war, hatte ein Eis in der Hand, und alle Erwachsenen sahen aus, als hätten sie nur das Wohl der nächsten Generation im Sinn. Überall sahen wir Papa- und Mamahände, die auf Kinderköpfen und Kinderschultern lagen. Und überall sprangen die Portemonnaies auf, wenn die Kleinen nur piepsten. Von diesem Bild des Friedens und der Eintracht konnten wir uns nicht losreißen. Wir saßen bloß da und glotzten.
Da trat ein Kellner aus dem Hafenrestaurant und sprach uns an. Ob wir Paul und Paula seien? Er habe eine Nachricht für uns. Und da wir bejahten, gab er uns einen verschlossenen Umschlag.
Ich nahm ihn und riss ihn auf. Drinnen steckte ein mehrfach gefaltetes dünnes Blatt Papier, offenbar ein altmodisches Fax. Oben stand: »An Paula und Paul (etwa vierzehn, beide blond, mit schwarzem Hund).« Darunter war etwas gemalt, das mich an meine eigenen Versuche bei diesem schönen Gesellschaftsspiel erinnerte, bei dem man zum Beispiel in sechzig Sekunden etwas malen muss, in dem der Mitspieler die Entdeckung Amerikas oder die Erfindung des Dieselmotors erkennt. Ich selbst erkannte hier, wie regelmäßig meine Mitspieler, überhaupt nichts.
»Gib mal her!« Paula drehte das Blatt ein paarmal und hielt es in verschiedene Himmelsrichtungen, bis sie endlich »Jawoll!« rief.
Ich sah ihr über die Schulter, und die Krakelei auf dem Blatt nahm tatsächlich Gestalt an, nämlich die Gestalt einer Telefonzelle an der Hafenmeisterei, hinter der ein Mast aufragte, an dessen Spitze eine Fahne die Windrichtung anzeigte.
»Los!« Wir stürzten zur Telefonzelle. Kaum waren wir alle darin versammelt, klingelte es. Paula nahm ab.
»Ich bin’s!«, sagte ein Mann am anderen Ende. Kein Zweifel, das war Bruno Hochschmidt. »Und ich bin ziemlich in Eile. Eigentlich hab ich gar keine Zeit mehr für euren Fall. Aber ich dachte, das würde euch interessieren: Dasgupta weiß Bescheid. Er trifft mit dem Nachmittagszug in Marseby ein. Ist vielleicht besser für alle Beteiligten. Oder habt ihr etwa schon ein neues Zuhause?«
»Nein«, sagten wir.
»Und eure neue Schwester? Wie ist die so?«
»Zickig«, sagte Paula. »Die will nichts von uns wissen.«
Ich wollte das ein wenig korrigieren, kam aber nicht zu Wort.
»Ich verstehe«, sagte Hochschmidt. »Aber eine Chance habt ihr noch. Vielleicht kommt eure Schwester ja auf den Hund.« Und bevor wir etwas sagen konnten, legte er auf.
»Das hat uns noch gefehlt«, sagte Paula, als wir wieder aus der Telefonzelle quollen. »Der alte Zyniker. Und verraten hat er uns auch.«
»Wieso denn das?«
»Na, von wem soll Guppy denn sonst wissen, wo wir sind?« Paula trat heftig gegen einen unschuldigen kleinen Stein.
»Aber er hat uns auch gewarnt.«
»Eben, der Mann ist ein Zyniker.« Und wieder musste ein kleiner Stein dran glauben.
Schweigend schlenderten wir die Uferpromenade hinunter. Paula schwieg erkennbar aus Wut. Ich hingegen schwieg, weil mir Hochschmidts letzter Satz nicht aus dem Kopf
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