München - 2030
Rentenalter angelangt, war bei Frau Schmerling eine gewisse Langeweile aufgekommen und nun hatte sie sich angewöhnt, die ganze Nachbarschaft über ihre Befindlichkeiten und Krankheiten auf dem Laufenden zu halten. Wenn sie einen der Nachbarn traf, konnte er sich stundenlang ihre Rückenleiden anhören. Doch das war lange noch nicht alles, was ihr Repertoire an absonderlich auftretenden Schmerzbeschreibungen bot. Frau Schmerling war schon immer etwas schmerzempfindlich gewesen, doch seit der Rente hatte sich das noch gesteigert. Sie klagte über Zehenschmerzen, Fußballenschmerzen, Knöchelschmerzen, Knieschmerzen, Hüftschmerzen, Ellenbogenschmerzen, Handgelenksschmerzen, Schulterschmerzen, Nackenschmerzen und Kopfschmerzen – die mal hier und mal dort, oder aber an mehreren Orten gleichzeitig auftraten. Mit einem schier unerschöpflichen Redeschwall nagelte sie ihr Gegenüber förmliche fest, um ihm auch noch das kleinste Detail der zuletzt erlebten Leiden haarklein zu schildern.
Glaubte man, nachdem man sich sämtliche Schmerzzustände und -intensitäten angehört hatte, es endlich hinter sich gebracht zu haben, kannte Frau Schmerling noch immer keine Gnade. Nun wurde man noch über die häufig wechselnden Arzneien informiert: Wieviel und zu welcher Tageszeit sie eingenommen werden mussten, welcher Arzt sie verschrieben hatte, und was die Unverträglichkeiten waren und wie die Nebenwirkungen aussahen.
Kurzum, eine Begegnung mit Frau Schmerling war der reinste Horror.
»Wie geht es ihnen denn so?«, fragte Frau Schmerling säuselnd – doch sie ließ Victor gar keine Zeit eine Antwort zu finden.
»Ich hab wieder so Kreuzweh«, erklärte sie in klagendem Tonfall.
»Also, das fühlt sich gerade so an, wie wenn mir jemand mit dem Hammer immer wieder auf dieselbe Stelle klopft. Und gestern Nacht erst ... ich sag’s ihnen ... fünfmal, jawohl, fünfmal bin ich wieder vor Schmerzen aufgestanden und die ganze Wohnung auf und abgelaufen ... da war’s wieder wie wenn jemand mit einem Meißel ...«
»Entschuldigen sie Frau Schmerling«, unterbrach Victor schließlich. »Ich muss ganz dringend auf die Toilette und kann’s keine Sekunde länger verdrücken.«
»Aber mein Rollator«, revoltierte Frau Schmerling, »das wollte ich ihnen doch noch zeigen ... er hakt immer in den Kurven, ich glaub das Rad geht ab, vielleicht können sie sich das nochmal ansehen?«
»Ein andermal, ein andermal«, rief Victor, während er sich eilig davonmachte und kurz darauf die schmale Straße zu seinem Haus einbog.
Was war das wieder für ein Tag, dachte er sich, als er endlich die Haustür aufsperrte.
Susann begegnete ihm im Flur. Susann und Victor waren nun seit vierzig Jahren zusammen. Doch die Beziehung lag momentan auf Eis. Vor Monaten war Susann aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen.
Victor hatte wegen chronischer Rückenschmerzen, die ihn besonders im Winter plagten, eine Masseurin aufgesucht. Und als er so entspannt auf der Liege gelegen war, hatte er sie aus Übermut in den Hintern gekniffen. Eigentlich war es nur ein Spaß gewesen. Victor konnte auch gar nicht sagen, was ihn dabei geritten hatte. Vielleicht war es, weil die Masseurin im Gender-Ausschuss der Linken saß und er diese übertriebenen Frauenrechtlerinnen noch nie ausstehen konnte. Oder aber, dass ihn ihr burschikoses Auftreten dazu ermutigt hatte, sie einmal aus der Reserve zu locken. Mit ihrem Aussehen hatte es aber nichts zu tun, schließlich war die Frau schon über achtzig.
Auf alle Fälle hatte die Masseurin, die zufällig den selben Yoga Kurs wie Susann besuchte, ihr in einem Vieraugengespräch davon erzählt. Seither kämpfte Victor um seine Beziehung. Susann konnte in solchen Dingen mächtig starrköpfig sein.
»Ich hab mir schon Sorgen gemacht«, sagte Susann vorwurfsvoll, »wo bleibst du denn?«
Victor sah Susann ins Gesicht, sie sah noch immer verteufelt gut aus. Früher hatte sie so umwerfend ausgesehen, dass es ihm immer ein Rätsel blieb, warum sie ihn gewählt hatte. Und jetzt, im Alter von 65 war sie noch immer überaus schön anzusehen. Susann war eine Frau mit Stil, obwohl sie absichtlich nie etwas dafür getan hatte. Das gewisse Etwas, was sie von anderen Frauen unterschied, war ihr in die Wiege gelegt. Auch trug sie
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