Muenchen - eine Stadt in Biographien
den Menschen, insbesondere den Bayern, den Spiegel vor. Den Vergrößerungsspiegel. Lüften jede Verschleierung, entdecken jede Unreinheit – entblößender kann Sprache nicht sein! Das emsige, überkorrekt prononcierte Ladnerinnenbayerisch der Schneeberger ist hier an jeder Ecke zu hören, manchmal dreht man sich um und denkt: Das ist sie, ja, sie steht direkt hinter mir: »Die Kasse wäre dann bitte rückwärts.«
ER SCHMEISST DIE ZEIT ZUM FENSTER RAUS
Er macht nicht den Philosophen, er
ist
der Philosoph. Zerpflückt die Sprache, nimmt Worte beim Wort. Die Frage »wie geht’s« beunruhigt ihn, er braucht Zeit zum Überlegen und Distanz, um sie zu beantworten. »Sie wollen eine prompte Antwort für einen Zustand, den ich nicht im Griff hab.« Polt extemporiert, zerfieselt Grammatik und Sprache, durchleuchtet den Irrealis der Vergangenheit, die tiefere Bedeutung des bayerischen Konjunktivs.
»Könnt ich noch ein Brot haben?« fragt der Kunde in der Bäckerei. Diese unbekümmert gestellte Frage verleitet einen wie Polt zu ausführlicher sprachphilosophisch-exegetischer Erörterung. Sprachgepflogenheiten wie etwa das Attribut »zeitsparend« stürzen ihn in tiefes Nachdenken über den Zeitbegriff. »Ich spare keine Zeit, ich schmeiße sie zum Fenster hinaus … Neulich hab’ ich eine Zeit erwischt, dann hab ich sie totgeschlagen!«. Er empfiehlt Gemächlichkeit, erst neulich habe er drei Stunden lang ein Butterbrot geschmiert, drei Stunden, immer dasselbe Brot. Bei diesen langsam beim Sprechen entwickelten, bis ins absurdeste Detail gehenden surrealistischen Ausführungen wird Polts Gefühl für Beschleunigung und Pausen deutlich, das »timing«, wie es auf Neudeutsch heißt. Er lässt sich Zeit, kann warten, weil er weiß, dass der Rhythmus die Grundlage aller Komik auf der Bühne ist. Ebenso zu studieren bei Polts großem Kollegen
Loriot,
dem Wahlbayern, dessen Komik sich ansonsten aus ganz anderen Quellen speiste. Schwer, die beiden zu vergleichen, aber sie nutzten in jeder Sekunde auf virtuose Weise ihr musikalisches Talent für die genaue Platzierung der Wörter. Hohe Kunst eben.
In einem Interview zu seinem 70 . Geburtstag redet das Arbeitstier Polt der Muße das Wort, »der Zeit, in der der Mensch nicht handeln muss, in der er eben gar nichts muss, sondern nur so herumschildkrötelt. Er hat nicht das Damoklesschwert der Produktivität über sich schweben, sondern tut einfach, was ihm einfällt. Oder er tut auch nicht, was ihm einfällt, das ist vielleicht noch schöner … Ich sinnlose vor mich hin und das mit Begeisterung. Wenn nichts passiert, passiert ja nur scheinbar nichts, weil irgendwas passiert ja immer, und wenn eine Ameise übern Sandboden läuft oder Staubpartikel durchs Fenster sichtbar werden, weil die Sonne reinscheint. Die Frage ist, ob es einem gelingt, sich diesem Angebot zu öffnen.«
Ob er uns, hyperaktiv, wie wir inzwischen sind, damit nicht ein bissl überfordert?
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RAINER WERNER FASSBINDER
1945 – 1982
Poet oder Egoist, Sensibelchen oder Kotzbrocken – was immer man über ihn sagen mag: Er war ein genialer Filmemacher, der wohl wichtigste Regisseur im Nachkriegsdeutschland.
D u fehlst«, steht an der Wand neben dem Eingang zum
Couch Club, Klenzestraße 89 .
Darüber: der Rainer. Ein Schablonen-Graffiti-Porträt, eine Momentaufnahme, in Schwarz-Weiß, nicht groß, aber eindringlich. Er führt die Zigarette zum Mund und schaut uns gar nicht an. Er schaut ins Leere, ins Weite. Ignoriert die Beflissenheit, mit der man in München seinen Mythos pflegt, etwa mit einem Rainer-Werner-Fassbinder-Platz, irgendwo im Niemandsland der Neubau-Quartiere, jenseits des Schienenhauptstrangs zwischen Donnersberger- und Hackerbrücke. Dorthin hat man auch Erika Mann und Marlene Dietrich als Namenspatrone für unbedeutende Sträßchen verbannt.
Spaziert man dann weiter durch die belebten, unaufgeregten Straßen des Gärtnerplatzviertels, dem sogenannten Münchner Schwulenquartier, muss man an seine ersten Filme denken, ihren »sound of melancholy«, der sie einzigartig und unvergesslich macht.
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