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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Hinrichs
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das hier ‹doppelte Anderssprachigkeit›.[ 18 ] Dieser Begriff will die einfache Tatsache erfassen, dass
    das gesprochene Deutsch vieler Migranten nicht identisch ist mit der Standardumgangssprache: Es ist ein Deutsch mit mehrsprachigem Hintergrund – ein enorm wichtiges Faktum;
    die gesprochene Herkunftssprache der Migranten in aller Regel nicht mehr ganz die Sprache des Herkunftslandes ist (und immer um einen gewissen Grad abweicht). Denn je länger ein Migrant in Deutschland ist, desto weiter entfernt er sich vom Eigenrhythmus seiner Herkunftssprache, und diese kann in Deutschland dann durchaus auch ‹deutsche› Züge annehmen (‹Deutschland-Türkisch›, ‹Deutschland-Russisch› etc.).
    Dies sollte man im Blick haben, wenn man in der Literatur auf Formulierungen stößt wie die, dass «die Entwicklung tendenziell auf eine große Zahl von ‹schwachen Sprechern›» zulaufe – ein Terminus, den der Eurolinguist Hans-Jürgen Sasse geprägt hat. Denn «schwach» heißt übersetzt nur: nicht mehr streng an eine vorgegebene Hochsprachennorm gebunden, und: von Mehrsprachigkeit geprägt. Was mit dieser ziemlich groben Skizze gesagt werden soll, ist dreierlei:
    Konkrete Mehrsprachigkeiten in einem Land wie Deutschland mit seinen Dutzenden, ja vielleicht über einhundert Fremdsprachen lassen sich nicht berechnen (vielleicht annähernd hochrechnen), sondern allenfalls in ihren wichtigsten Typen zeigen.
    Des Pudels Kern ist deshalb die neue Mehrsprachigkeit der Migranten als solche – im Prinzip unabhängig von ihren tausend Erscheinungsformen. Es ist der latente MS-Zustand mit seinen starken kognitiven und psychologischen Merkmalen, auf den es allein wirklich ankommt und der einen scharfen Kontrast bildet zu dem historischen Gegenstück der Einsprachigkeit (die sich immer weiter zu verflüchtigen scheint).
    Anstatt also über unabsehbare Projekte nachzudenken, die ohnehin immer eine lange Laufzeit haben, müsste untersucht werden, wie die Mehrsprachigkeit von Migranten als ein sprachlicher Modus mit der deutschen Umgangssprache interagiert undwelchen Output es dabei gibt. Der Clou ist, in einem Satz, sicher dies:
    Â  Mehrsprachigkeit als ein neuer Modus der Sprachverarbeitung verändert und vereinfacht die Grammatik.
Ein einfaches kognitives Modell der Mehrsprachigkeit
    Gut möglich ist, dass man mit einem einfachen kognitiven Modell der MS die Veränderungen des Deutschen wie auch der Herkunftssprachen im Kern und bis hin zu einer gewissen Grenze wird erklären können. Formulieren wir die zentrale Frage noch einmal um: Was passiert im Sprecherhirn, was geht im kognitiven Haushalt mehrsprachiger Sprecher vor sich, und wie kann das überhaupt Einfluss nehmen auf die Veränderungen sprachlicher Strukturen? Was wissen wir heute darüber? Offenbar noch nicht sehr viel. Die Forschung zu Mehrsprachigkeit befasst sich bis jetzt eher mit dem kindlichen Spracherwerb und sozialen Slangs und gibt noch kaum wirklich brauchbare Antworten. Eine rühmliche Ausnahme sind Arbeiten wie die von Claudia Nitsch (2007), die, jenseits von sozialen Interpretationen, erst einmal die zugrundeliegenden neurologischen Tatsachen ins Auge fasst. Und hier kann man gleich etwas Wichtiges lernen:
    Mit bildgebenden Verfahren hat man nachweisen können, dass der springende Punkt das Alter ist, in dem man eine Fremdsprache lernt. Lernt man eine Sprache früh, wie die Muttersprache, werden größere Hirnareale aktiviert und die Prozesse spielen sich mit der Zeit vollkommen automatisch ein. Alles ist besser vernetzt. Lernt man eine Sprache nach dem zwölften Lebensjahr (eine ungefähre Marke), wird sie separat gespeichert und aktiviert andere Hirnareale. Dadurch werden die Wege der Sprachverarbeitung länger und komplizierter, gehen zwischen Erst- und Zweitsprache hin und her und bleiben immer mehr oder weniger bewusst , was sofort Fehler erzeugt. Der unbewusste Autopilot der Muttersprache wird von der bewussten Handsteuerung der Fremdsprache abgelöst oder konkurriert mit ihr, und das explizit-bewusste Sprachen- handling kostet das Gehirn ein Vielfaches an Kraft.
    Migranten gehören in diesem Szenario grob gesagt zwei Typen an:
    Ã„ltere Migranten trennen zwischen Erst- und Zweitsprache.
    Bei der mehrsprachigen zweiten, dritten und vierten Generation kann man von einer engeren und ‹automatischeren› Vernetzung der

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