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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Hinrichs
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Hier endlich die Voraussetzungen für Chancengleichheit zu schaffen, muss die erste Aufgabe einer zukünftigen Migrationspolitik sein.[ 15 ]
    Es gibt immer so etwas wie eine Grundregel des Durchschnitts, ein Raster, an dem man sich für gezieltere Feldforschungen zumindest orientieren kann. Eine dieser Grundregeln betrifft das Schicksal der Mutter- und Herkunftssprache in der Sprachsituation des Ziellandes. Der normale Weg der Sprachassimilation verläuft immer entlang gewisser Stadien, markanten Interpunktionen, die sich aus der Generationenabfolge ergeben. Die Bochumer Slavistin Tanja Anstatt formuliert den grundständigen Prozess am Beispiel der russischen Diaspora so («Drei-Generationen-Modell»): «Nach dem Generationenmodell (…) verläuft die Sprachentwicklung typischerweise so, dass die erste (d.h. die Einwanderer-Generation) monolingual oder dominant in der Herkunftssprache ist; die zweite Generation ist in unterschiedlichen Formen bilingual und behält die Herkunftssprache nur noch für familiäre Zwecke bei; die dritte Generation geht schließlich zur Monolingualität über oder ist zumindest dominant in der Umgebungssprache.» (Anstatt 2008, 3f.)
    Dieses Modell ist ziemlich theoretisch und es trifft eher für Länder wie die USA als für Deutschland zu. Denn zumindest das Ideal der Einsprachigkeit hat sich mittlerweile endgültig als Illusion, aber auch als unnötig und wirklichkeitsfern erwiesen. Es ist eine politische und sprachpolitische Altlast enger Nationalstaaten. Bei keiner der relevanten Ethnogruppen kann man heute von Monolingualität sprechen: Die zwei- und mehrsprachige Kompetenz der Migranten ist in etlichen Gradabstufungen durchweg erhalten und die Regierungen sind offenbar zur Zeit dabei, Mehrsprachigkeit als eine besondere Ressource zu erkennen, zu würdigen und auch auszunutzen.
3. MEHRSPRACHIGKEIT UND ANDERSSPRACHIGKEIT
    Â«Ich lebe nicht in zwei Welten – ich bin zwei Welten» – so fasst die marokkanische Opernsängerin Malika Reyad die Quintessenz ihrer mehrsprachigen Existenz zwischen Ländern, Städten und Kulturen zusammen.
    Die Mehrheit der Menschheit lebt in mehrsprachigen Gesellschaften und ist mehrsprachig. In allen Gesellschaften, in denen mehrere Sprachen nebeneinander existieren, dominiert die Mehrsprachigkeit. «Historisch betrachtet waren alle großen Reiche vom Morgenland bis zum Abendland mehrsprachig.» (Cabadağ 2001, 16) Nicht nur das soziale Leben des Menschen ist auf Mehrsprachigkeit angelegt, sondern offenbar auch seine Existenz als ein sprachbegabtes Wesen: «the human language faculty has an endowment for multilingualism.» (Jürgen Meisel) Und die neue Disziplin der Eurolinguistik z.B. entwickelt ihr Zukunfts-Programm für das 21. Jahrhundert ausdrücklich im Namen des mehrsprachigen Individuums.
    Wie Sprachkontakt ist also auch Mehrsprachigkeit so etwas wie ein irdischer Regelfall, eine weltweite Konstante. Trotzdem erscheint die Situation um Sprachen, Migration und Mehrsprachigkeit in Deutschland merkwürdig kompliziert: Sie leidet immer noch unter dem alten Mythos der Einsprachigkeit, einer Art europäischer (sprach)politischer Krankheit. Daher ist sie heute von einem Paradox geprägt. Es kommt in diesen Aussagen zum Ausdruck:
    â€“ «Das Ergebnis [der] neuzeitlichen Völkerwanderungen (…) ist in absehbarer Zukunft die Entstehung äußerst heterogener Sprachgemeinschaften, in denen Mehrsprachigkeit als Regelfall gelten wird.» (Jörn Achterberg)
    â€“ «Einen (…) Diskurs über die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit gibt es (…) nicht.» (Volker Hinnenkamp)
    An diesem Paradox hat sich bis heute kaum etwas geändert. Realität und Wissenschaft laufen nicht synchron, sondern nebeneinander her. Obwohl das heutige Deutschland eigentlich so etwas sein könnte wie ein ‹Paradies für Linguisten›, ein «living language laboratory» (Hans Peter Stoffel), nähert man sich dem ganzen Komplex Migrantensprachen und Mehrsprachigkeit hierzulandenur sehr vorsichtig. Deshalb ist auch ein öffentlicher Diskurs über die Auswirkungen dieser Mehrsprachigkeit auf das Deutsche noch in weiter Ferne. Um sich dem Problem überhaupt zu nähern, wird in der deutschen Forschungslandschaft gern eine historische Kontinuität der Mehrsprachigkeit an den Horizont gemalt. Dabei ist die stereotype Behauptung, Deutschland sei

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