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Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert

Titel: Multi Kulti Deutsch - wie Migration die deutsche Sprache verändert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Hinrichs
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schon immer ein mehrsprachiges Land gewesen, zugleich wahr und auch wieder falsch – je nach der Lesart. Sie ist unwiderlegbar, gleichzeitig aber auch auf eine subtile Weise irreführend, weil sie Äpfel und Birnen in einen Korb zusammenwirft. Denn der Typ Mehrsprachigkeit, den Deutschland traditionell gewöhnt war, hat mit der Mehrsprachigkeit seit Gastarbeiter-Zeiten kaum noch etwas gemein. Werfen wir darauf einen kurzen Blick:
    Alte Mehrsprachigkeiten wie Latein-Deutsch, Französisch-Deutsch, Schulsprache-Deutsch oder Hochschulsprache-Deutsch sind im Prinzip eher passiv, schriftlich, kaum kreativ und von der gesprochenen Sprache des Alltags weit entfernt, wenn nicht sogar von ihr isoliert. Die grenznahen Zweisprachigkeiten im Saarland oder Schleswig-Holstein fallen für die deutsche Sprachsituation nicht ins Gewicht.
    Neue Mehrsprachigkeiten sind jene der nach 1960 zugewanderten Migranten, z.B. Türkisch-Deutsch. Zehn Millionen Menschen in Deutschland benutzen täglich noch eine andere Sprache als das Deutsche.[ 16 ]
    Niemand, der offenen Auges und mit offenen Ohren durch eine deutsche Großstadt geht, kann sich dem entziehen. Wir holen Brötchen beim türkischen Bäcker, bei O2 berät uns ein Fachmann aus Tunesien, wir gehen zur Russin ins Nagelstudio, essen indisch und ärgern uns über albanische Hütchenspieler. Und trotzdem bleibt eine sprachliche Kluft, die sich zwischen Normalbürger und Fremdsprache, die oft unerreichbar bleibt, auftut: So gut wie niemand kann sicher entscheiden, welche Sprache er in der U-Bahn, im Café oder an der Straßenecke gerade hört.
    Man kann nicht behaupten, dass die offensichtliche Tatsache eines mehrsprachigen Landes im Bewusstsein weiter Teile der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund bereits wirklich angekommen wäre, und auch nicht, dass die Forschungslandschaft den real existierenden Mehrsprachigkeiten[ 17 ] in angemessenem Umfang Rechnung tragen würde. Was wäre also zu tun?
Mehrsprachigkeiten
    Beginnen müsste man mit einer Großaufnahme der deutschen Sprachenlandschaft. Dies ist zur Zeit nicht möglich, weil die Statistiken nicht die gesprochenen Sprachen nennen, sondern die Staatsangehörigkeiten. Wie schwierig die Sprachenverteilung real zu erfassen ist, erweisen die klassischen Beispiele der Volksdeutschen aus Kasachstan, jüdischer Menschen aus der Ukraine oder der Albaner aus dem Kosovo. Hier gehen Muttersprache, Staatssprache, Standardsprache, Erstsprache, Zweitsprache und noch vieles andere unübersehbar durcheinander. Dann müsste ermittelt werden, welche ‹Vitalität› (= Stärke der soziologischen Existenzbedingungen) die großen Migrantensprachen im Land haben und wie und warum sie sich hier unterscheiden: So hat das Albanische z.B. mit Sicherheit einen anderen Vitalitätsgrad als vielleicht das Polnische. Unter den slavischen Migrantensprachen hat das Russische wohl die Nase vorn, wie die herausragende Studie von Achterberg (2005) belegt.
    Neue Mehrsprachigkeiten (MS) bestehen im Prinzip und im Kern aus der jeweiligen Migrantensprache und Deutsch, also Türkisch-Deutsch, Arabisch-Deutsch oder Russisch-Deutsch; die Liste ließe sich beliebig fortsetzen und mag irgendwann auch Vietnamesisch, Thai oder Hausa einbeziehen (sie sind hier aber weniger von Interesse). Dies ist ihre äußere Auffächerung, deren Verzweigungen und Ausprägungen in den Großstädten in die Hunderte oder Tausende gehen müssen. Diese MS sind im Unterschied zu den alten, statischen MS viel dynamischer: Sie gestalten sich im Alltag nach schwer fassbaren Regeln selbst aus. Und allmählich ebnen sie die Kluft zwischen ‹perfekter› Mutter-Herkunfts-Sprache und neuer Hoch-Fremdsprache ein und nähern beide auf einer eher praktischen Augenhöhe einander an. Besonders türkische und russische Sprecher mischen beide Sprachen virtuos ineinander und setzen dieses Codeswitching sehr effektiv ein.
‹Anderssprachigkeit›
    Wenn neue Mehrsprachigkeiten flächendeckend verbreitet sind, gibt es ungezählte Erscheinungsformen und Ausprägungen, weil sich auch jeder Sprecher nach Kenntnis, Talent, Biographie undsozialem Umfeld unterscheidet. Wenn Migranten längere Zeit in einem anderen Land sind (oder: hier zweisprachig aufwachsen), bilden sie langfristig ein Verhältnis zu beiden Sprachen aus, das sich von dem des einsprachigen Muttersprachlers unterscheidet: Wir nennen

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