Munzinger Pascha
Fotokopien vermischte sich mit ammoniakscharfem Schleim und tropfte zu Boden. Seufzend warf ich das Bündel in die Aare. In der Strömung trieben die Blätter rasch auseinander. Sie leuchteten in der Nacht, bis sie im Dunkel hinter der Bahnhofsbrücke verschwanden.
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Massaua, im Juli 1875. Werner Munzinger Pascha ist jetzt dreiundvierzig Jahre alt und auf dem Höhepunkt seiner Macht. Er regiert über zwei Millionen Menschen; sein Reich ist dreimal so groß wie die Schweiz und reicht vom Roten Meer bis in die Wüste des Sudans und südwärts hinauf ins abessinische Hochgebirge. Der Damm und die Wasserleitung nach Massaua sind vollendet, der Telegrafendraht nach Khartum ist längst gespannt. Jetzt vermessen Eisenbahningenieure das Land auf der Suche nach möglichen Linienführungen von Massaua gegen Westen und nach Norden, Geologen bohren im Steppensand nach Wasser, Straßenbauer bessern Wege aus und erstellen Brücken, Agronomen bauen in großen Versuchsbetrieben Baumwolle, Tabak und Indigo an.
Zu Hunderten stranden die europäischen Einwanderer in Munzingers Reich; landlose Bauern aus der Schweiz, verarmte Handwerker aus England, jugendliche Abenteurer aus Deutschland, Missionare aus Schweden, Frankreich und Italien. Jede Woche bringt das Postschiff dem Gouverneur Briefe von Menschen, die er nicht kennt. Er beantwortet sie längst nicht mehr alle; hin und wieder aber rührt ihm einer besonders ans Herz, wie etwa der Brief jenes Bauern aus Aarau, dessen Land bis nah an die Stadtgrenze von Olten reicht.
|194| Massaua, 5. Juli 1875
Lieber Herr Huber!
In Antwort auf Ihren Brief habe ich Ihnen zu sagen:
daß ich Ihnen wohl ein Stück Land abgeben kann, das Sie kultivieren können;
daß Sie auf Ihre eigene Rechnung bis Massaua kommen müssen. Die Ausgaben von der Schweiz bis hierher belaufen sich auf etwa 100 Franken;
daß Sie am besten im Herbst oder Winter kommen, da dann die Temperaturen für einen Neuankömmling am erträglichsten sind und die Regenzeit noch weit weg ist; Sie reisen wohlfeiler über Aden mit dem Rubbatino-Dampfer und von da per Barke nach Massaua;
daß Sie keine Schießwaffen mitzubringen brauchen.
Ihr freimütiger Brief erlaubt es mir, meinerseits auch offen die Meinung zu sagen. Die Bücher, die Sie gelesen haben, reden schon die Wahrheit; aber Afrika erhält sein blendendes Colorit vor allem dadurch, daß wir der Zukunft und der Ferne zulächeln, dabei aber der Gegenwart und der Heimat keine Poesie abzugewinnen vermögen.
Ich rate Ihnen, zu Hause zu bleiben. Es ist viel schöner zu Hause als bei den Wilden und Halbwilden; es ist viel mehr wahre Poesie zu Hause als in ganz Afrika. Eine ärmliche Existenz in der Heimat ist mehr wert als tausend Abenteuer in der Ferne. Sie haben Mutter und Schwester: Haben Sie das Recht, sie zu verlassen, einfach aufs Geratewohl hin? Einigen ist es gelungen, ihr |195| Glück zu machen – die meisten aber sind gescheitert. Daß Sie hier zu Reichtum kommen und dann Ihre Nächsten aus dem Elend ziehen können, ist sehr ungewiß, und daß Sie überhaupt jemals die Heimat wiedersehen, ist auch nicht so sicher.
Fühlen wir nicht alle mit dem Älterwerden immer stärker, daß die Familienzugehörigkeit das einzige Band ist, das im Leben Wert hat? Bedenken Sie sich gründlich, bevor Sie dieses Band zerreißen.
Wenn Sie aber durchaus kommen wollen, so lassen Sie die Illusionen zu Hause; ich für meinen Teil werde das Möglichste tun, Ihnen den Anfang zu erleichtern. Aber besser und immer besser bleibt das alte und einfache Sprichwort: »Bleib im Land und nähr dich redlich!«
Ihr aufrichtiger
Werner Munzinger
In jenem Sommer 1875 hat der Generalgouverneur der ägyptischen Provinzen am Roten Meer und des östlichen Sudans erhebliche Sorgen. Kaiser Johannes hat seine sämtlichen Truppen im Norden zusammengezogen. Er will diesem Munzinger, der ihn damals zum Frieden mit den Engländern überredete, das Bogos-Land und die übrigen annektierten Gebiete wieder abnehmen. Ägypten seinerseits hat einen Freundschafts- und Handelsvertrag abgeschlossen mit Fürst Menelik von Schoa, dem großen Rivalen des Kaisers und ersten Anwärter auf dessen Nachfolge. Aber die Regenzeit hat schon begonnen; die Wege sind sumpfig, und ein sofortiger Krieg ist unwahrscheinlich.
|196| Kairo, 31. Juli 1875
Mein lieber Munzinger Pascha!
Die europäischen Zeitungen behaupten seit neustem, wir hätten im Sinn, ganz Abessinien zu erobern. Ich rate Ihnen
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