Muschelseide
wehte. Mächtige Türen, mit Haken und Riegeln verschließbar, führten zu den verschiedenen Zimmern. Decima Ludovico ging ohne jedes Zögern, sie hielt sich nicht einmal am Geländer fest. Ich fragte mich, ob sie innerlich die Stufen zählte. Sie geleitete uns in ein größeres Zimmer mit zwei Fenstern, eins zur Straße, das andere zum Garten. Ein Sofa, dessen Sprungfedern sich gesenkt hatten, war mit dunkelrotem Plüsch bezogen.
»Bitte, machen Sie sich es bequem«, sagte Decima. Wir dankten und setzten uns. Die Stühle mit der hohen Lehne waren in der gleichen Farbe gepolstert. Auf einer altmodischen Vitrine aus Nussbaum standen Kristallvasen, eine scheußliche Puppe im grünen Ballkleid, wie man sie auf Jahrmärkten gewinnt, und allerlei Geschirr, davon einige zierliche Kaffeetassen, die Decima jetzt mit behutsamen Gesten auf den Tisch setzte. Dazu gehörten fein gearbeitete Kaffeelöffel aus Messing. Decima brachte Zucker, gekochte Milch, einige duftende Amaretti. Der Kaffee war schon in einer silbernen Kanne vorgekocht. Decima bewegte sich so leicht und sicher, dass ich mich immer wieder fragte, ob sie wirklich blind war. Es musste wohl stimmen, denn mir fiel bald auf, dass ihre Pupillen, was auch immer sie tat, starr in die gleiche Richtung blickten.
Als sie uns endlich gegenübersaß, den Rücken kerzengerade, die Hände mit ihren kräftigen Nägeln flach auf den Schenkeln ruhend, eröffnete sie das Gespräch mit den Worten:
»Ich bin eine alte Frau und empfange wenig Besucher.«
Sie machte eine Pause, und Fabio sagte höflich:
»Ja, das erwähnten Sie bereits. Wir werden auch nicht lange bleiben.«
Sie nickte ihm zu und fuhr fort:
»Gelegentlich kommen Leute, die sich für die Geschichte der Textilien interessieren. Meistens sind es Fachleute. Doch Sie sagten mir, dass Signorina Sforza einen Schal aus Muschelseide ihr Eigen nennt. Nun, Signorina, woher kommt dieser Schal? Ich höre zu und bin sehr gespannt!«
Sie beugte sich in erwartungsvoller Haltung leicht vor und hielt, während ich erzählte, ihre Augen von schönstem Blau starr auf mich gerichtet. Dabei schien etwas in ihr vorzugehen. Stufenweise drückten ihre gelassenen Züge die Anstrengung und Erschütterung eines Menschens aus, der seine Erinnerungen zurückverfolgt und auf der Schwelle einer bewegenden Entdeckung steht. Plötzlich unterbrach sie mich mit lebhafter Geste.
»Dieser Schal, wo befindet er sich?«
»Hier, Signora!«
Ich löste den Schal von meinem Hals, schüttelte ihn leicht, um ihn auszubreiten; mir war, als ob sich die Luft mit einem spinnwebenfeinen Leuchten erfüllte, bronzefarben, hellgrün und goldrosa: ein Zimmer voller Regenbogen! Doch die alte Frau griff bereits nach dem Tuch. Die Geste war liebevoll, unbeirrbar sicher. Es war, als spürte sie die Gegenwart des Schals aus der Bewegung der Luft. Ich konnte sehen, wie der Schal, gegen das Licht gehalten, durchsichtig wurde, sodass sich Decimas Handfläche dahinter wie ein Schatten abzeichnete. Sie nickte vor sich hin, während ihre beweglichen Finger den Umrissen der Muster nachspürten.
»Das Muster ist gewebt, nicht gemalt«, sagte sie, »Muschelseide kann man nicht bemalen, außer mit dem Purpur der Purpurschnecken. «
Die tastende Bewegung ihrer Finger hielt plötzlich inne. »Der Rand wurde ausgebessert.«
Ich wechselte mit Fabio einen erstaunten Blick.
»Wie haben Sie das bemerkt?«, fragte ich.
»Das Tuch wurde zerschnitten, hier, mitten durch den Seestern. Der Rand war leicht ausgefranst und wurde vernäht. Man sollte es eigentlich mit bloßem Auge sehen.«
»Ich habe es schon festgestellt, Signora«, erwiderte ich demütig.
Sie sprach weiter, als ob sie laut dachte.
»Das Tuch war doppelt so lang. Wo ist der abgeschnittene Teil?«
Ich fühlte mich schuldbewusst, ohne zu wissen, warum, und sagte, dass ich vergeblich versucht hatte, es zu erfahren.
»Und wer hat den Rand ausgebessert?«
»Meine Großtante, wie mir gesagt wurde.«
»Die Arbeit wurde sorgfältig ausgeführt, das schon«, murmelte sie. »Aber das Garn ist Bombyx, nicht Byssus. «
Sie hielt den hauchdünnen Stoff auf den Knien, streichelte ihn sacht, wie eine Mutter, die ihr schlafendes Kind streichelt.
»Einst war Byssus der kostbarste Stoff dieser Welt. Das Wort stammt aus dem Griechischen, wie Sie vielleicht wissen, und bedeutet ›feine Faser‹. Eigentlich bildet jede Muschel eine solche Fadendrüse. Aber nur bei der Pinna nobilis werden die Fäden lang. Sie entstehen aus
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