Muschelseide
zusammenfügten; ich vermeinte fast das leise Klicken zu hören, wie die Teilchen sich in die ihnen zugeordnete Stellung einklinkten. Die ganze Welt bestand aus alten und neuen Geheimnissen. Ich war in mancher Hinsicht erfahren, aber jetzt bekam ich eine Gänsehaut.
»Es war mein Großonkel, Gaetano Sforza! Es kann niemand anderes gewesen sein!«
Ganz ihren Erinnerungen hingegeben, bewegte sie leicht den Kopf auf und nieder. Es war ein bejahendes Zeichen.
»Morta wurde nicht müde, von ihm zu erzählen. Er hat wahrhaftig großen Eindruck auf sie gemacht. Hoch gewachsen und sehr schlank sei er gewesen. Die Uniform war von tadelloser Machart und stand ihm wunderbar. Er hatte goldbraune Haut und lockiges Haar von seltener Farbe, wie dunkle Bronze ...«
Ich hob unwillkürlich die Hand, fuhr über mein Haar. Es war, als ob Decima die Bewegung spürte. Sie hielt inne und fragte:
»Haben Sie auch solches Haar?«
Fabio antwortete für mich.
»Ja, sie hat wunderschönes Haar. Kastanienbraun und gelockt.«
Ich lächelte schwach.
»Es ist ein Merkmal unserer Familie.«
»Er war noch sehr jung«, fuhr Decima fort. »Zwanzig vielleicht? Aber in dieser Zeit war die Kindheit kurz. Wir lernten früh, Verantwortung zu tragen: Der Maltese war bereits Erster Leutnant, hatte viele Länder, viele Meere bereist. Jedenfalls bat er meine Großmutter, die damals die Werkstatt leitete, um ein Gespräch unter vier Augen. Das Gespräch dauerte ziemlich lange. Und als er ging, erklärte Großmutter den Weberinnen, der junge Offizier habe einen Schal aus Muschelseide in Auftrag gegeben. Der Schal sei für eine junge Dame bestimmt, die bald ihren Geburtstag haben würde. Die Weberinnen seufzten, hingerissen, gerührt und etwas neidisch. Manche waren ja noch ganz jung, halbe Kinder. Doch Großmutter sagte:
›Ihr törichten Dinger! Er will den Schal seiner Schwester schenken!‹
Immer stärker gewann ich den Eindruck, dass ich einen einzigartigen Augenblick erlebte, dass alles, was einst getrennt war, sich zusammenfügte.
» Cecilia ... «, sagte ich kehlig.
»Ja«, erwiderte Decima, »das war der Name, den er nannte. Die junge Dame wurde an ihrem siebzehnten Geburtstag in die Gesellschaft eingeführt, und sie sollte den Schal zu ihrem Ballkleid tragen. Der junge Mann hatte gewünscht, dass der Schal ein marines Muster zeigte. Seine Schwester sei eine gute Schwimmerin, hatte er lachend erzählt. Das war überaus ungewöhnlich; in dieser Zeit wagten sich die Damen nur ganz selten ins Meer. Großmutter erarbeitete also eine Vorlage, die am Webstuhl umgesetzt wurde. Die aufwändige Arbeit erforderte große Geduld und Sorgfalt und nahm mehrere Monate in Anspruch. Endlich war der Schal fertig. Das Muster war einzigartig. Morta, die auch ihren Teil daran geleistet hatte, beschrieb mir eingehend die Fische, die Seepferdchen, den großen Seestern in der Mitte. Und als der Offizier auf der Rückreise von Afrika erschien, um den Schal in Besitz zu nehmen, lobte er jede einzelne Weberin und sagte, er habe nie etwas Schöneres gesehen. Er zahlte in Goldmünzen. Die beachtliche Summe wurde unter den Weberinnen aufgeteilt. Die Mädchen verwendeten sie für ihre Aussteuer. Morta erzählte, dass eine der Frauen, eine verarmte Witwe, vor Glück in Ohnmacht fiel. Sie hatte jetzt das Geld, um sich ein Häuschen zu kaufen.«
Ein Schweigen folgte, das Decima mit einem Seufzer brach. »Ja, ja, der schöne Offizier aus Malta ... Wissen Sie, was aus ihm geworden ist? «
»Es war der Erste Weltkrieg«, sagte ich. »Sein Schiff wurde von einem U-Boot beschossen. Gaetano wurde schwer verletzt geborgen und lebte nicht mehr lange.«
Decimas blaue Augen waren seltsam verdüstert, gleichsam müde von zu tiefgründigem Wissen.
»Kriege sind eine Abscheulichkeit«, murmelte sie, »grausam und unabwendbar wie alles Böse, ein uralter Fluch, der auf uns lastet. Und die junge Dame?«, fragte sie aus mitfühlendem Herzen. »Was geschah mit ihr?«
Ich zögerte, doch nur einen Atemzug lang.
»Cecilia starb, als sie achtzehn war, bei der Geburt eines Kindes.«
Decimas Gesicht schimmerte fast überirdisch weiß, als vermochte es im Dunkeln zu leuchten. Ihre Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln.
»Warum sie ihren Schal zerschnitten hat? Ich habe darüber nachgedacht. Ich glaube, dass sie ihn teilte, um ihn als Liebespfand ihrem Mann zu überreichen.«
Ich schüttelte leicht den Kopf.
»Sie war nicht verheiratet.« Ich setzte hinzu: »Die Familie war sehr
Weitere Kostenlose Bücher