Muschelseide
lesen, denn sie zeigte plötzlich ein breites, ironisches Grinsen.
»Ihr denkt, die alte Decima ist verrückt? Nein, die alte Decima hängt nur ihren Erinnerungen nach. Jetzt nehmt noch Kaffee, und hört mir zu. Als mich Morta – meine Mutter – in die Werkstatt nahm, lieferten die Fischer die Muscheln zuerst bei uns ab. Wir entnahmen ihnen den Byssus und gaben die Muscheln den Fischern zurück, die sie dann auf den Markt brachten. Der Byssus wurde zuerst in Meerwasser, dann in Regenwasser gewaschen, um ihn von Sand und Schlamm zu befreien. Für eine letzte Waschung wurde Lauge verwendet. Dann kam er in ein Zitronenbad, das ihn dunkelgolden machte, oder in den Urin der Kühe, der ihm eine hellgelbe Färbung verlieh. Ja, und ich sehe wieder mich als Mädchen, wie ich die Büschel zum Trocknen in die Sonne legte, sie dann zwischen den Handflächen rieb, um sie weich zu machen, bevor sie gekämmt wurden. Der Kamm war kurz und musste aus Stahl sein. Die Büschel waren recht hart, und die Arbeit dauerte lange. Dann erst konnte der Byssus mit der Hand gezupft und zu einem Faden verzwirnt werden. Jede Weberin hatte ihre Spindel – Fusu – und den Rocken – Kannuja –, beide aus Holz. Da diese Geräte eigentlich zu der Aussteuer jeder Frau gehörten, zogen die meisten von uns vor, ihr persönliches Werkzeug zu verwenden. Der fertige Faden wurde auf den Rahmen gespannt und gewebt. Und – oh, das darf ich nicht vergessen – bei der Arbeit ging es immer sehr ausgelassen zu. Unsere Scherze wären keiner anständigen Frau über die Lippen gekommen. Wir waren nicht wohlerzogen – wir waren eben anders. Wir sangen auch Lieder. Es gab Lieder für das Kämmen, für das Spinnen und für das Weben. Sie verliehen uns die Kraft, unsere Arbeit zu fühlen. Manche dieser Lieder waren in einer fremden Sprache, von der ich später erfahren sollte, dass sie Aramäisch war – die Sprache, die auch Jesus Christus sprach. Ich höre diese Lieder noch heute in mir. Kaum singe ich ein paar Strophen, da wiege ich mich schon im Takt, aber die tanzende Spindel in der Hand, die sehe ich nur im Geist ... «
Sie hatte wie in Trance gesprochen. Ihre Stimme klang schmerzlich stolz. Nun zog sie die Brauen zusammen, legte die Finger flach auf die geschlossenen Augen. Dann legte sie ihre Hände, noch voller Kraft und Energie, zurück auf den Schal und streichelte ihn. Eine Weile verging. Fabio sah sie an und blickte wieder weg, als sei er in Wirklichkeit nicht sonderlich interessiert. Ich bemerkte, wie er verstohlen auf die Uhr schaute.
»Dieses Handwerk«, fragte ich Decima, »könnte es wieder aufleben?«
Sie straffte den Rücken, wandte sich langsam mir zu.
»Ich weiß es nicht. Die Gewässer sind verschmutzt. Chemische Stoffe fördern das Wachstum bösartiger Algen. Die edle Steckmuschel findet keine Nahrung mehr.«
»Könnte man sie nicht züchten, wie man auch Muscheln für die Gewinnung von Perlen züchtet?«
Sie nickte.
»Vor einigen Jahren wurden Versuche unternommen ... « »Und? «
»Man gab die Versuche auf. Es wäre viel zu teuer geworden...«
Die Sonne verschwand; hinter den Scheiben flammten mohnrote Blumen auf. Dann sank Dunkelheit herab. Die Blinde schien es nicht zu stören. Wie jemand, der allein ist oder in Gedanken versunken, glättete sie unentwegt den Schal mit der Handfläche, fuhr mit ihren Fingern das Muster entlang, als merkte sie gar nicht, dass sie es tat. Auf einmal machte sie eine unruhige Bewegung mit den Füßen auf dem Steinboden. Es war, als sei etwas in ihr erwacht, das lange verschüttet gewesen war, als sei aus dem Grunde der Zeiten etwas in ihr Bewusstsein getreten, das tief in ihr verborgen, ihrem Gedächtnis unerreichbar gewesen war. Sie sah mich an mit ihren strahlenden Augen, die nichts sahen.
»Es war ein Auftrag«, sagte sie, sonderbar leise, als sollte es niemand hören außer mir. »Ja, ja. Jetzt entsinne ich mich. Meine Mutter hat oft von ihm erzählt. Sie war vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, als er die Weberei besuchte. Alle Mädchen hatten nur Augen für ihn. Nie zuvor hatte ein so gut aussehender junger Mann die Werkstatt betreten. Ich glaube, meine Mutter verliebte sich wirklich in ihn. Sie war eine schöne junge Frau damals, viel schöner, als ich es jemals gewesen bin. Der junge Mann war Maltese, Offizier auf einem britischen Schiff ...«
Ich hielt die Luft an, bevor ich mit einem kleinen Stoß ausatmete. Es war, als ob sich irgendwo, in einer anderen Dimension, winzige Partikel
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