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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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mimten Fröhlichkeit und Einverständnis, um meinen unterschwelligen Groll und Fabios schlechtes Gewissen zu überspielen. Das kleine Mädchen, das zwischen uns getreten war, bewegte sich auf Krücken; das machte es unbesiegbar. Ich, die mit beiden Füßen fest auf der Erde stand, steckte die Niederlage ein. Dieser Tag, diese Stunde waren für mich schon gelebt, bevor sie eigentlich zu Ende gingen. Auch die folgende Nacht war schon gelebt, bevor sie kommen würde. Liebe kann man sich abgewöhnen, hatte ich gesagt. Konnte man das wirklich?
    Es wurde vier Uhr. Die alte Dame wartete auf uns.
    »Via Orthobene« lautete die Adresse. An der Rezeption sagte man uns, die Straße befände sich irgendwo in den Vororten, und wir sollten lieber ein Taxi nehmen. Zum Glück wusste der Fahrer Bescheid, weil sein Schwager, wie er sagte, in der Nähe wohnte.
    Der Wind hatte sich gelegt, es war noch wärmer als in der Mittagszeit. Aber Cagliari war erwacht. Eine stickige Großstadt, mit barocken Kirchen und alten Gebäuden, manche restauriert, viele noch baufällig. In den Straßen brodelte der Verkehr. Jedes Rotlicht dauerte lange, und alle Fahrzeuge hupten zur gleichen Zeit, als ob sie das Warten nicht ertragen könnten. Im Hafen lagen Kutter, Fischerboote, elegante Yachten, und darüber strahlte das Blau des Nachmittagshimmels. Jenseits der Masten, Schornsteine und Aufbauten schaukelte das offene Meer. Am Stadtrand verloren Wohnblöcke sich in gelbe, ausgetrocknete Felder. Die Küste dahinter war felsig, die Strände klein und halbmondförmig. Schließlich bog der Fahrer in eine Straße ein, die scheinbar nirgendwohin führte, hügelauf und hügelab. Wir fuhren an einer ausgedienten Fabrik, an einer Garage vorbei, an Werkstätten, an Läden mit heruntergelassenen Gittern, an niedrigen Steinhäusern, mit Reben bewachsen, an einer verkommenen Trattoria. Ein Dorf, das nicht gewachsen war und sich langsam von seinen Bewohnern leerte.
    »Hier!«, sagte der Fahrer. Er gab uns seine Handynummer. Wir sollten ihn anrufen, er würde uns wieder abholen. Er fuhr weg, Sand aufwirbelnd, und wir standen in der sommerlichen Stille, im starken Duft der Kamillenbüsche. Das Haus befand sich in einem kleinen Garten. An dem stabilen Eisentor hing der Haken, mit dem man ihn verschließen konnte. Die Fenster waren mit Eisenstäben versehen, aber nur im Erdgeschoss. Oben standen sie offen. Der Vorhof war mit Kies belegt. In einer Ecke stapelte sich Brennholz, und im kleinen Gemüsegarten wuchsen Stangenbohnen und schöne Tomaten. Ich stieß das Tor auf. Wir gingen auf das Haus zu; an der schweren Holztür hing ein dicker Klöppel in Form eines Delphins. Ein Überbleibsel von früher, denn an der Seite der Tür war eine Klingel angebracht, die in der Stille laut schepperte. Es dauerte ziemlich lange, bis sich im Haus etwas regte. Endlich wurde ein Schlurfen hörbar. Eine Kette rasselte, die Tür öffnete sich einen Spalt. Vor uns stand eine klein gewachsene Frau mit blassen Lippen und scharfer Nase. Sie trug nicht Schwarz, sondern ein altmodisches Kleid mit einem Blumenmuster, orange und dunkelgrün, dazu Wollsocken und derbe Sandalen. Ihr kurz geschnittenes Haar war nur leicht ergraut, was bewirkte, dass sie weder jung noch alt aussah. Doch das wirklich Auffallende an ihr waren die Augen, blauer als Vergissmeinnicht. So blau, als spiegele sich in ihnen die Farbe des Himmels.
    »Sind Sie der Besuch, den ich erwarte?«, fragte sie.
    Die raue, fast krächzende Stimme war die einer Raucherin oder die einer alten Frau. Fabio zeigte sein gewinnendes Lächeln, als ob er nicht mehr daran dächte, dass die Frau ja eigentlich blind war. Aber Blinde spüren, ob die Mitmenschen lächeln. Außerdem bewirkte der direkte blaue Blick, dass man es vergessen konnte.
    »Ja, Signora. Entschuldigen Sie, dass wir Sie stören«, setzte er höflich hinzu.
    Sie bewegte den Kopf.
    »Ich habe mit Ihnen am Telefon gesprochen, ich erkenne Ihre Stimme wieder.«
    Ich sagte: »Mich kennen Sie noch nicht, Signora. Ich bin Beata Sforza und komme aus Malta.«
    »Malta ist für mich kein unbekannter Ort. « Sie lächelte und zeigte Zähne, die von gelber Farbe, aber fest und gesund waren. »Kommen Sie!«
    Sie schloss die Tür, führte uns eine Treppe hinauf. Die einzelnen Stufen bestanden aus Schiefer, auf die durch das Fenster Licht fiel. Das Treppenhaus selbst, so groß wie ein Zimmer, war mit einem Wandschrank versehen, vor dem ein weißer Vorhang aus Baumwolle, rot bestickt, im Luftzug

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