Muschelseide
organischem Material, vorwiegend aus Eiweiß.«
Ihre Augen starrten an mir vorbei ins Leere. Sie sprach sehr sachlich, aber dazwischen kamen immer wieder lange Pausen. Sie merkte es offenbar gar nicht. Es schien sie etwas stark zu beschäftigen, und dieses immer wiederkehrende, sonderbar leere Schweigen deutete darauf, dass sie an etwas ganz anderes dachte.
»Die Tradition erzählt, dass die Webkunst seit uralten Zeiten von den Prinzessinnen aus der Familie des Königs Herodes von Judäa ausgeübt wurde. Der Schleier im Tempel Salomos, der das Allerheiligste verbarg, war aus Byssus, ebenso wie das Goldene Vlies, das Jason auf seinem Schiff Argon sich zu suchen aufmachte. Die sardische Bevölkerung stammt aus dem Mittleren Orient, haben Sie das gewusst? Die Phönizier, beheimatet an den Küsten des heutigen Libanon, waren als unerschrocke ne Seefahrer bekannt. Doch sie waren Händler, keine Eroberer; sie bauten Siedlungen, die wenig befestigt waren, und misch ten ihr Blut mit dem Blut einheimischer Frauen. Damals lebten Götter unter den Menschen, und die Welt war voller Wunder. Die Völker waren jung, ihre Phantasie noch unverbraucht.«
Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen. Was für eine schöne Sprache die alte Dame doch hat, dachte ich. Dabei war es, als ob die klangvolle sardische Aussprache ihren Worten noch mehr Nachdruck verlieh.
»Der Ursprung meiner Vorfahren verliert sich im Dunkel. Sicher ist, dass sie über das Meer kamen. Vielleicht zogen sie auf Weisung ihrer Gottheit aus, die ihnen sagte, wohin sie segeln sollten. Sie kamen über das Meer mit ihren Frauen. Und diese Frauen kannten das Geheimnis der goldenen Fäden aus dem Meeresgrund. Das war ihr Kennzeichen; sie hüteten es als etwas Verborgenes und gaben es nur an ihre Töchter weiter. Das Drehen des Spinnrades war Sinnbild der kreisenden Gestirne, und das Hin und Her des Schiffchens wurde mit dem heiligen Schöpfungsakt verglichen. Später änderten sich die Sitten. Das Weben war nicht mehr Kulthandlung, nicht mehr Gebet. Die Frauen richteten kleine Werkstätten ein. Sie webten für Päpste, Bischöfe und Könige. Aber sie waren anders als andere Frauen. Sie lebten nach altem Mutterrecht, dachten eigenständig und kühn. Ihre Töchter bestimmten selbst ihren Gatten; und es war jedem Mann eine Ehre, von einer dieser Frauen erwählt zu werden. Vor hundert Jahren noch wurden meine Ahnfrauen die ›Zauberinnen‹ genannt, obwohl sie fromm erzogen wurden, den sonntäglichen Kirchgang nie verschmähten und nicht selten Priester und Nonnen in der Familie vorkamen.«
Decima verstummte, doch nur, um ein Schlückchen Kaffee zu trinken. Der Löffel klirrte leise, als er an die Tasse stieß.
»Früher – ich rede von der Zeit, als ich Kind war – kamen die Steckmuscheln in den Küstengewässern noch sehr häufig vor. Die ärmeren Leute kauften sie als Nahrungsmittel. Aber man konnte sie nur in der kalten Jahreszeit fischen; in den warmen Monaten galt ihr Fleisch als ungenießbar. Es waren die Fischer selbst, die in ihrer Unwissenheit die Muscheln mit Rundzangen ernteten und den Bestand langsam, aber unaufhaltsam vernichteten. Damals gab es Webereien auf Carloforte und Maddalena. Und auch auf meiner Heimatinsel Sant’ Antioco. Meine Mutter war Weberin, wie es meine Großmutter vor ihr gewesen war. Ich begann mit neun, ihr Handwerk zu lernen. Eigentlich hätte mein Vater gern eine Lehrerin aus mir gemacht, denn ich hatte noch zwei jüngere Schwestern und war für mein Alter sehr frühreif. Doch stets gab ich der Spindel und dem Rocken den Vorzug vor den Büchern. Ich richtete meine Aufmerksamkeit lieber auf den golden funkelnden Faden auf der Spindel als auf die Schiefertafel und die Kreide. Ich war von den Fäden bezaubert wie von einem magischen Licht. Ich hatte dabei das geheimnisvolle Empfinden, dass meine verstorbene Großmutter – die ebenfalls den Namen Decima trug – mir über die Schultern blickte, mir zulächelte. Dieses Gefühl trat jedes Mal auf, wenn ich die Spindel führte. Heute erscheint mir die Großmutter nicht mehr; sie hat sich zurückgezogen in die Nebel der Zeiten. Sie ist kein Gespenst, noch nicht. Wollte ich es wirklich, könnte ich sie rufen; sie würde in Erscheinung treten und mir zulächeln, wie einst ... «
Fabio verzog das Gesicht. Ich betrachtete sie schweigend. Redete sie irre? Doch ich fand in ihren blinden Augen kein Irresein. Ich fand nicht das geringste Anzeichen dafür. Mehr noch: Sie schien in unseren Gedanken zu
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