Muschelseide
aufgebracht.«
Decima antwortete sanft, mit der großen und endgültigen Erfahrung einer bitteren Reife.
»Ja, ja, das Schicksal ist manchmal fürchterlich hoffnungslos. Es ist immer die Frau, die das Kind trägt und zur Welt bringt. Aber meine Gedanken tun hier nichts zur Sache. Der junge Herr muss seine Schwester sehr geliebt haben. Ob er wusste, was mit dem Schal dann geschah? Ich für meinen Teil glaube, dass er es wusste. Diese außergewöhnlich beschenkte Dame war gewiss vertrauenswürdig ... «
Geriet die Vergangenheit in eine Sackgasse, blieb das Geheimnis ohne Anfang und ohne Ende lebendig. Das Geheimnis war unvergänglich – weil es ja stattgefunden hatte. Ein düsterer Kummer überfiel mich. Die Gespenster der Vergangenheit verfolgten mich bis hierher in dieses alte sardische Haus, aber zeigten mir nicht ihr Gesicht. Noch während ich so dachte, erkannte ich Decimas ungewöhnliche Fähigkeit, mit ihren blinden Augen in mir zu forschen. Immer stärker gewann ich das Gefühl, dass sie sehen konnte, wer ich war, mit unterbewusstem, nahezu unheimlichem Scharfsinn. Eine gewaltige Zuneigung regte sich in mir zu dieser Frau. Ich hatte weder Gaetano noch Cecilia gekannt, ich wusste lediglich, dass es sie gegeben hatte. Decimas Existenz aber war mit der Existenz dieser Menschen auf der vergangenen Seite meines Lebens verwoben gewesen. Die Erkenntnis betäubte mich fast. Und gleichzeitig fühlte ich mich unsagbar erregt.
»Eigentlich bin ich nicht wegen meiner Familie hier«, sagte ich, so ruhig ich konnte. »Ich danke Ihnen trotzdem, dass Sie mir das erzählt haben.«
Draußen glühte ein schwindender roter Schein. Aus der Dunkelheit klang die Stimme der alten Dame, heiser und singend zugleich.
»Die Vergangenheit sollten wir ruhen lassen. Sie könnte jene Kraft zerstören, die uns befähigt, zu leben. Ich habe Sie mit alten Erinnerungen belastet. Scusi, Signorina, ich hätte es vielleicht nicht tun sollen.«
Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie Fabio sich unruhig in seinem Lehnstuhl bewegte. Das Gespräch wurde ihm zu ausführlich, zu persönlich. Doch ich konnte mich jetzt nicht mit ihm befassen.
»Im Gegenteil, Signora«, erwiderte ich lebhaft. »Ich bin froh, dass Sie es mir erzählt haben. Ich hätte nie gedacht, dass Sie und ich etwas Gemeinsames haben. Ich kam zu Ihnen, um zu erfahren, ob die Verarbeitung der Muschelseide noch möglich sein könnte. Das Unternehmen, für das ich arbeite, ist weltweit bekannt, hat auch das nötige Geld und unterstützt außergewöhnliche Projekte. Ich betreibe augenblicklich eine Machbarkeitsstudie. Aber das geht nicht von heute auf morgen. Bitte, haben Sie Geduld!«
Decimas fein gezeichnete Züge veränderten sich nicht. Sie schien weder verwundert noch beeindruckt. Sie war von Natur aus sachlich.
»Geduld? Wer mit Muschelseide arbeitet, lebt von Geduld. Doch mein Körper hat keine Geduld mehr und lässt es mich auch wissen.«
Ein so leiser Hinweis darauf, dass ich nicht mehr mit ihr würde rechnen können, genügte, um mich unglücklich zu machen. Ich fragte, erwartungsvoll und etwas bange:
»Gibt es denn keine Frauen mehr, die das Gewerbe so gut kennen wie Sie?«
Sie ließ eine ihrer üblichen Pausen verstreichen. Ihre auf mich gerichteten blinden Augen waren wie dunkle Spiegel. Dann machte sie eine matte Bewegung allgemeinen Verneinens.
»Einige Frauen kennen das Gewerbe, das schon. Aber nicht so gut wie ich.«
»Ach, warum denn?«
»Weil sie nicht mehr daran glauben.«
In meiner Vorstellung gab es kaum Dinge, die sich nicht mit Energie und Erfindungsgabe – und gelegentlich gegen Bezahlung – erreichen ließen. Es zuckte mir wie Feuer durchs Blut, dass hier vielleicht nichts mehr zu machen sein würde.
Ich schluckte und sagte:
»Das ist sehr, sehr schade.«
Sie nickte gelassen.
»Es gibt nur noch eine Weberin. Eine, die ich selbst unterrichtet habe.«
Sofortige Erleichterung. Wo eine Möglichkeit war, öffnete
sich Raum für die Tatkraft. Ich wollte Vertrauen haben. »Kann ich sie besuchen? Wie heißt sie? Wo wohnt sie?« Decimas Zähne blitzten in der Dunkelheit.
»Sie ist meine Tochter, und sie lebt auf Malta. Ihr Name ist Nona. «
11. Kapitel
E s gab eine Zeit, da ich glaubte, mich könnte nicht mehr viel überraschen. Die Welt ist verwickelt und vielgestaltig, aber nicht unzusammenhängend. Ein Ereignis, das andere nicht spie gelt, ist, für sich genommen, eine Ausnahme. Und diese alte Dame hatte es tatsächlich geschafft, mich in
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