Muschelseide
Erstaunen zu versetzen.
»Aber Signora!«, rief ich. »Warum sagen Sie mir das erst jetzt?«
Decimas Lächeln, das so selten kam, verschwand. Ihr Gesicht mit den reglosen Augen war nur noch ein heller Fleck in der Dunkelheit. Ihre Stimme klang ein wenig scharf.
»Eine Frau, ein Leben mögen ausreichen, damit eine Kunst nicht stirbt. Bisher fehlte nicht nur das Geld, sondern auch die Erkenntnis, dass das Meer uns nährt, heilt und kleidet. Dass das Meer unsere Mutter ist, die uns alle zur Welt brachte.«
Sie war nicht mehr ganz beim Thema. Oder doch? Sie verstand sich wirklich recht gut aufs Reden, machte, wo es darauf ankam, ihre dramatischen Ruhepunkte. Ich unterdrückte meine Ungeduld, so weit es ging. Ganz gelang es mir nicht, und ich wurde nervös. Aber ich schwieg und unterbrach sie nicht.
»Gewiss ist das Meer nicht nur gütig, sondern auch grausam. Doch welche Mutter ist nie zornig? Und verdienen wir Menschen nicht ihren Zorn? Sind wir nicht dabei, unsere Mutter zu töten? Die Strafe wird kommen, wegen der bösen Dinge, die wir ihr antun. Auch wenn wir sie um Vergebung bitten, wird es zu spät sein.«
Die Pause trat unerwartet ein, mit schmetternden Trompeten aus Verdis Aida. Ich sah Fabio ärgerlich an. Warum hatte er sein Handy nicht ausgeschaltet?
»Scusi, Signora!« Fabio erhob sich hastig, stieß mit dem Knie gegen den Tisch.
» Oh, ich habe vergessen, Licht zu machen!«, rief Decima verlegen. »Der Schalter ist neben der Tür. «
Fabios tastende Hand fand den Schalter. Ein Kronleuchter flammte auf. Trübes Licht erhellte den Raum, ließ alle Schatten hervortreten.
»Si, pronto! «, sagte Fabio. Er ging nach draußen, machte Licht im Treppenhaus. Ich hörte ihn leise sprechen. Irgendein Instinkt in uns sorgt dafür, dass wir Bescheid wissen. Er hatte ein krankes Kind und eine Frau, die ihn nicht verstand? Mit Fabios Ausreden war kein Staat zu machen. Ich fand sie abgeschmackt und kleinlich. Ich hatte nicht einmal mehr Lust, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, weil mich das, was Decima sagte, im Augenblick mehr interessierte. Folglich stellte ich mich auf sie ein.
»Das alles ist wahr, Signora«, brach ich die längere Gesprächspause. »Sagen Sie, kann ich Ihre Tochter mal besuchen? «
»Es wird nicht schwierig sein«, erwiderte sie. »Sie lebt seit über zwanzig Jahren auf Gozo. «
Ich lächelte sie an, ließ dabei meine Gedanken weit abwandern, eine Sache, bei der ich mir wahrhaftig ganz genial vorkam.
»Ach, auf der Insel der Nymphe Kalypso.«
Sie erwiderte mein Lächeln, als ob sie es gesehen hätte.
»In der Antike hieß die Insel Ogygia. Meine Tochter wohnt in Victoria, zu Füßen der Kathedrale. Haben Sie gewusst, dass bei ihrem Bau ein punischer Tempel zu Ehren der Mondgöttin gefunden wurde?«
»Nein«, antwortete ich, wobei ich es mit der Wahrheit nicht so genau nahm. Es waren ja immer nur die Touristen, die sich die Ruinen ansahen.
»Und ist die Mondgöttin nicht gleichsam die Herrin der Meere?« Decima sprach, als ob sie aus einem Reiseführer vorläse. »Aber es ist schon so: Wir sehen selten, was dem Auge am nächsten ist.«
Mir fehlte, bei allem gebotenen Respekt für das, was sie sagte, die nötige Überzeugung. Sie hatte ein geistiges Bild in sich und auch das Bedürfnis, es mitzuteilen. Ich nahm es in Kauf.
»Meine Familie besaß ein Stück Land auf der Insel«, erzählte ich. »Zwei Mandelbäume und Reben. Aber heute nicht mehr.«
Decima zeigte ein Lächeln, das ausgesprochen zärtlich war.
»Meine Tochter ist glücklich in Victoria. Ihr Mann arbeitet im Krankenhaus. Sie hat zwei Söhne. Als ich merkte, dass ich mein Augenlicht verlieren würde, gab ich ihr meine Spindel und meinen Webstuhl. Nona webt Seide und Leinen. Ihre Kunst wird geschätzt, und ihre Kunden kommen von weither.«
Die Tür knarrte. Fabio trat wieder in den Raum. Er wollte rasch die Tür hinter sich zuschlagen, aber ein großer gestreifter Kater war schneller und huschte durch den Spalt. Die Frau konnte ihn nicht sehen und gewiss auch nicht hören.
»Ach«, sagte sie dennoch. »Der Milo ist da.«
Sie beugte sich über den Tisch, goss mit müheloser Sicherheit Milch in eine kleine Untertasse und stellte sie auf den Boden vor Milo, der sofort zu lecken begann. Die schmatzenden Geräusche schienen Decima zu behagen. Ich blickte zu Fabio hinüber, der mir zunickte.
»Dr. Biasinis Sprechstundenhilfe. Sie gab mir den Termin für Cosima durch.«
»Schön«, sagte ich.
Decima sprach weiter von dem
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