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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Nährboden. Über uns bildete das Wasser ein grünes Kristalldach, auf dessen Unterseite die Sonne das zitternde, wirre Spiel ihrer Lichtreflexe warf. Die verzauberten Hügel auf dem Meeresgrund umgaben uns von allen Seiten. Es waren unendlich viele. Schließlich tauchten wir auf, legten uns auf das Wasser und paddelten entspannt und glücklich. Das Pfeifen des Windes, das gemächliche Auf und Ab der Wellen, ihr leichtes Schmatzen und Saugen waren die einzigen Geräusche in der Stille. Nachdem wir uns ausgeruht hatten, sagte ich:
    »Ich brauche noch einen Tauchgang. Ich kann den Umfang der Wiese nicht richtig abschätzen.«
    »Wie weit, glaubst du, geht sie?«
    »Nicht bis zur Küste, nehme ich an. Seegraswiesen mögen keinen Schatten. Was sagst du dazu?«
    »Ich?« Kazuo lachte. »Was soll ich schon dazu sagen?« »Du hast sie ja gefunden«, sagte ich. »Kommst du auch mit? «
    »Selbstverständlich.«
    Wir schoben unsere Brillen wieder hoch und schwammen dem Klippenring entgegen. Den Blick hielt ich stets nach unten gerichtet. Mit den Wasserspiegelungen huschten Flecken von Sonnenlicht über die Gräser, die sich in der Strömung alle nach einer Seite neigten. Irgendwann erreichte ich eine Stelle, wo die Schlickmasse zurückging und das Seegras sich lichtete. Ich gab Kazuo zu verstehen, dass ich hier tiefer gehen wollte. Das Riff umschloss mehr als die Hälfte der Bucht; die Steine waren von einer Kruste winziger Muscheln bedeckt, von Anemonen, die ihren schlaffen Blätterkreis träge bewegten, von Trauben kleiner, zweischaliger Muscheln, über die sich ein Netz von Tangfäden zog. Von einer bestimmten Linie abwärts wurden die Klippen dunkel und glatt. Spalten und Hänge bildeten eine tiefe, gefährlich aussehende Moräne; möglicherweise hatte sie noch mit dem Erdrutsch zu tun, der den Urstrand unter Wasser gerissen hatte. Fast war mir, als ob das Gestein noch einen geheimen Druck in sich berge, die Felswand unvermittelt zusammenbrechen, mich unter ihrer kolossalen Masse begraben könnte. Das Gefühl war unheimlich und vollkommen irrational, hatte sich doch seit Jahrtausenden kein Stein mehr gerührt. Noch während ich so dachte, sah ich plötzlich vor mir eine Anzahl Steckmuscheln, die alle nahezu einen Meter hoch waren! Das bedeutete, dass der Lebensraum der Pinna nobilis sich dauerhaft erhalten hatte, sodass die Muschel ihre ausgewachsene Größe erreichen konnte. Steckmuscheln, die über zwanzig Jahre alt werden, erzeugen sehr lange Byssusfäden. Weil nämlich die Fäden nach zwei oder drei Jahren ihre Funktionsfähigkeit verlieren, muss die Muschel lebenslang immer neue, kräftigere Fäden hervorbringen. Diese wunderbare Entdeckung erfüllte mich mit einer Art trunkenen Glücksgefühls. Doch gleichzeitig entstand Beklemmung, weil ich nur noch wenig Luft in der Lunge hatte. Gerade wollte ich auftauchen, als ich seitwärts in einem Loch eine Steinfigur sah. Zwei Flossenschläge mehr, und ich hatte sie voll im Blickfeld. Die Figur, in den Stein gemeißelt, stellte eindeutig eine Frau dar. Sie war nahezu in Lebensgröße, breit und rundlich geformt, die Arme zwischen dem großen Bauch und dem schweren Busen verschränkt, die mächtigen Schenkel zu winzigen Füßen verjüngt. Ein Kopf war nicht vorhanden. Die Statue stand etwas schief in einer Vertiefung, die fast so groß wie ihr Körper war. Im Laufe der Zeit hatte sie der Plankton mit einem grünlichen Perlenmantel überzogen. Während ich sie betrachtete, war mir auf einmal, als ob sich die Statue bewegte. Ein seltsamer Schatten zog vorbei. Ich wurde gewahr, dass ich den Schatten kannte, dass ich ihn schon früher gesehen hatte. Plötzlich hob sich die Erscheinung kaum merklich, als drückte sie die Strömung in die Nische hinein. Die Wasser wurden getrübt; im unruhigen Hell-Dunkel glaubte ich ein Auge zu sehen, das wie Perlmutt schimmerte, und darüber einen großen Kranz wirbelnder Haare, bronzebraun in der Farbe der Muschelseide. Dahinter oder daneben klebten lange Tangfäden an dem Felsen. Ich konnte nur das Auge ansehen oder den Haarkranz, beides aber nicht gleichzeitig, sonst verwischten sich die Umrisse. Die Erscheinung war mir nicht fremd; ich hatte sie bereits früher gesehen. Aber wo nur, wo? Sie war von Schleiern schillernder Seide umgeben, die vielfarbig schimmerten, wenn das Wasser sich wellte. Als ich meinen Blick auf das Perlmuttauge richtete, drehte es sich in eine ganz bestimmte Richtung, wobei es flammend klar aufleuchtete. Nur Fischaugen

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