Muschelseide
sanftem Rauschen zunehmend an Fahrt. Noch herrschte ein Rest von Kühle in der Luft. Der Himmel stand durchsichtig und weit über der Landschaft. Die Wellen rollten gemächlich vorbei, glänzende Schaumstreifen leck ten das nasse Gestein. Wir nahmen Kurs auf den Fungus Rock, der zwischen Steilküste und Meer aus dem Wasser ragte. Je nach Entfernung und Beleuchtung ließ der Felsblock an das Antlitz eines urzeitlichen Riesen denken, nicht von der Natur, sondern von Menschenhand erschaffen. Das Antlitz war voller Wundmale und Siegeszeichen: ein gebrochenes Nasenbein, ein gebrochenes Jochbein, verzerrte Lippenwülste und unzählige, mit dem Stein verwachsene Narben. Selbst die Ruinen des Wachturms schienen von legendären Ereignissen zu erzählen, von Überfällen, Kämpfen und Triumphen. Das Ufer zog sich dahin, die Sonne stieg. Schwärme von Seevögeln kreisten wie trunken im Licht. Lorenzo saß auf dem Steuersitz, achtete auf den Kurs und auf alles miteinander. Kazuo und ich richteten unsere Augen dahin und dorthin, beobachteten, wie das Meer und der Himmel zu strahlen begannen, wie jede Welle in einer anderen Farbe leuchtete, dunkelgrün oder smaragden oder türkis-blau. Dann, als die Gianna den Schatten der Klippen erreichte, wurde das Wasser schwarz wie Teer. Das Riff, an manchen Stellen über zweihundert Meter hoch, umschloss die Bucht wie eine Festung, die über das Wasser hinweg ihre Mauern und Türme reckte.
»Früher«, erzählte Lorenzo, »ließen sich die Fischer an Seilen mit Knoten an den Klippen herab. Sie schwebten zwischen Himmel und Meer, stützten sich auf Felsvorsprünge, während ihre Seile, mit einem Angelhaken versehen, in die Wellen hingen. Diese Art zu fischen war äußerst gefährlich, aber noch vor hundert Jahren üblich.«
Der »Fungus Rock« entfernte sich auf der Backbordseite, dahinter lag das Meer weit und offen da. Während der Motor gleichmäßig brummte, setzte ich meine Taucherbrille auf und beugte mich über das Wasser, um die marine Beschaffenheit zu erkunden. Unter der prallen Sonne wogte das Meer gleichmäßig ruhig. Der Boden fiel nicht steil ab, wie ich zunächst angenommen hatte, sondern zog sich in sanftem Hang in dämmrige Tiefen. Hier schimmerte das Wasser in allen Farben, wie in einem Aquarium. Fische, die ziemlich groß waren, zogen funkelnde Blitze. Als ich Tangstreifen bemerkte, rief ich Lorenzo zu, dass ich hier tauchen wollte. Er hob die Hand zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und stellte den Motor ab. Stille kehrte ein. Nur das Plätschern und Glucksen des Wassers war zu hören und der Wind, der die Schreie der Vögel brachte. Diesmal hatte ich meinen Tauchanzug aus Neopren an, der sehr strömungsgünstig war, den ich jedoch, weil ich vorerst nicht sehr tief gehen würde, ohne Kopfhaube trug. Ich hatte auch nicht den üblichen Bleigürtel aus Gummi umgeschnallt. Kazuo und ich zogen unsere Schwimmflossen über. Das Boot schaukelte etwas, als wir ins Wasser sprangen. Wir hatten abgemacht, dass Kazuo an der Oberfläche schnorcheln würde, was den Vorteil hatte, dass er einen größeren Umkreis absuchen konnte, während ich zwar tiefer ging, aber immer wieder zum Luftholen auftauchen musste. Als wir bereit waren, hielt ich mich für einen Augenblick am Bootsrand fest, sog so viel Luft ein, wie ich konnte, bevor ich kopfüber in die Tiefe glitt. Ich teilte eine blitzende Wolke kleiner Fische, ging tiefer, bis ich den Meeresboden sah. Das Erste, was mir auffiel, waren die Steine, die dort überall verstreut waren. Liegen Gegenstände lange unter Wasser, verwandeln Plankton und Mikroorganismen sie in stumpfe, felsähnliche Massen. Diese Steine aber wiesen alle die gleiche, rechteckige Form auf. Zufall? Neugierig schwamm ich um die Blöcke herum, berührte sie, spürte unter der Hand die abgestumpften, aber regelmäßigen Kanten. Ich blieb unten, so lange ich konnte. Dann schwamm ich aufwärts, zielstrebig, aber nicht zu schnell. Bald leuchtete das Wasser hellgrün, eine Welle trug mich empor. Ich blickte umher, sah die Gianna in unmittelbarer Nähe sanft schaukeln. Ich kraulte dem Boot entgegen und zog mich hoch.
»Woher kommen die Steinblöcke?«, rief ich Lorenzo zu. »Es sind ziemlich viele da unten.«
Er zeigte keine Überraschung.
»Ach, das sind die Reste eines Megalithentempels. Man hat sogar Halbreliefs gefunden, die meisten leider stark beschädigt. In den Siebzigerjahren löste die Entdeckung heftige Spekulationen aus, die bizarrsten und nutzlosesten
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