Muschelseide
übrigens. Aus der Untersuchung der Sedimente ließ sich die Anlage auf etwa neuntausend vor Christus schätzen. In dieser Zeit gab es eine Erwärmung der Meere. Der Wasserspiegel stieg. Ganz Küstenstreifen verschwanden. Aber das war für das Routinedenken ein zu starkes Stück. Undenkbar, hieß es!«
»Das Undenkbare ist nicht unbedingt unmöglich!«
»Allerdings. Man weiß heute noch immer nicht, wie die frühen Menschen ihre Paläste und Tempel errichteten. Es waren ja erst die Römer, die Baumaschinen in unserem Sinne erfanden.«
Ich hielt mich am Boot fest, schaukelte gemächlich in der leichten Dünung.
»Wozu diente der Faustkeil?«
»Vielleicht«, sagte er, »ist unsere Vorstellung vom technischen Fortschritt zu einseitig?«
»Ziemlich heikles Thema!« Ich lachte. »Was sagen denn die Einheimischen dazu?«
»Die Einheimischen sagen, einst segelte eine Königin über das Meer, weil ein fallender Stern ihre Heimat vernichtet hatte. Sie erbaute einen Palast, verbot Tieropfer und lehrte die Inselbewohner, Weizen und Gerste zu säen und Weinreben anzulegen. Einsam in ihrem Turmgemach, rief die Königin die Sterne beim Namen, sprach mit den Vögeln und webte das ›Tuch des Meeres‹, bis sie mit den Riesenwellen, die ihren Palast überschwemmten, ihr Grab in den Fluten fand.«
»Hübsch!«, meinte ich. »Und was sagt Nona dazu?« »Nona sagt natürlich, die Geschichte sei wahr!«
Jetzt lachten wir beide, während Kazuo, der in einiger Entfernung schnorchelte, sich dem Boot näherte. Einige Augenblicke später zog er sich neben mir hoch und schob seine Brille aus dem Gesicht.
»Da vorn habe ich etwas gesehen.«
Ich neigte meinen Kopf fragend zu ihm. Er wies mit der Hand hinüber.
»Grünzeug«, sagte er knapp, noch immer außer Atem.
Das Boot warf keinen Schatten mehr aufs Meer. Die Hitze war stark. Ich strengte meine Augen an, so sehr ich konnte, um etwas unter dem schaukelnden Licht zu entdecken. Da waren Felsen, die ziemlich weit ins Meer reichten. Felsen weisen oft bizarre Formen auf. Im Hitzedunst ließen mich diese an einen Radkranz denken, an einen Ring auf dem Wasser. Ich wartete, bis Kazuo sich erholt hatte, und nickte ihm zu.
»Gehen wir?«
Wir setzten unsere Masken wieder auf, kraulten dem Felsen entgegen. Schon bald fiel mir auf, dass die Unterwasserschichten eine diesig dunkelgrüne Färbung aufwiesen. Ich tat ein paar Schwimmzüge in geringer Tiefe und erblickte mit einem Mal einen grünen Hügel vor mir. Es war eine Seegras- wiese, mit Steckmuscheln übersät! Bei diesem Anblick begann mein Herz zu rasen, und ich ging schnell wieder an die Oberfläche. Ich tauchte dicht neben Kazuo auf, der mich perplex anstarrte.
»Habe ich etwas gefunden, das sich für dich lohnt?« Ich wischte mir das Wasser aus dem Gesicht.
»Du wirst dich rühmen können, mich an der Nase herumgeführt zu haben. Von wegen Grünzeug! Was du gefunden hast, ist eine völlig intakte Seegraswiese, die größte, die ich je gesehen habe.«
Sein zweifelnder Ausdruck verwandelte sich in ein Lächeln. »Bisher konnte ich nichts für dich tun, das hat mich ein wenig gestört. Jetzt habe ich endlich Glück!«
»Du bist so schön methodisch«, sagte ich. »Es wäre schade gewesen, dich nicht dabeizuhaben!«
Wir zogen unsere Brillen wieder zurecht und schwammen zunächst dicht unter der Oberfläche. Dabei sahen wir die Seegraswiese näher kommen. Es war wie in einem dieser Träume, in denen wir fliegen können. In seltsamer Losgelöstheit bewegten wir uns über sanfte, grüne Hügel, die im Wasser langsam emporstiegen, ein Hügel nach dem anderen. Es mussten Sand- und Schlickdünen sein, die sich im Laufe der Jahrhunderte mit Seegras bedeckt hatten. Weil die Gewässer noch sauber waren, hatte die gefürchtete Killeralge Calerpa taxifolia das Seegras noch nicht verdrängen können. Die Halme wehten in der Strömung, als ob ein ständiger Wind sie bewegte. Unsere Schatten glitten gespenstisch und dunkel über diese Traumlandschaft, die kein Ende nahm. Manchmal wuchsen die Gräser so hoch, dass sie sich vor uns teilten. Dann fielen sie wieder in diesige Tiefen ab. An allen Hängen wuchsen Steckmuscheln, kleine und große. Sie hatten sich mit ihrem vorderen, spitzen Ende senkrecht in den weichen Schlickuntergrund gegraben oder sich mit ihren langen Haftfäden an Wurzelwerk und Steine geklammert, unter denen der angesammelte Schlick zur festen Masse geworden war. Solcher Schlick gewährte der Steckmuschel den idealen
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