Mustererkennung
Einsamkeit.
4 RECHENGRANATEN
Irgendwie kommt sie mehr oder minder schlafend über die gefürchtete Stunde hinweg und bis in den nächsten Spiegel—weltmorgen.
Metallisches Migränelicht durchblitzt sie, wie von den Schwingen eines entgleitenden Traums reflektiert.
Schildkrötenartig schiebt sie den Kopf unter dem Riesen—topflappen hervor und blinzelt zu den Fenstern hinüber. Tag.
Inzwischen ist offenbar schon ein gut Teil ihrer Seele eingeholt.
Ganz andere Selbst-und Spiegelweltwahrnehmung, begleitet von einem überraschenden Energieschub, der sie aus dem Bett und unter die Dusche treibt, wo sie den verchromten italienischen Brausekopf auf scharfe nadelfeine Strahlen stellt. Zu Damiens neuen Wohnerrungenschaften gehört auch heißes Wasser, jede Menge, und dafür ist sie dankbar.
Es ist, als hätte plötzlich etwas Entschlossenes, Zielstrebiges von ihr Besitz ergriffen, nur daß sie keine Ahnung hat, was dieses Etwas will. Aber für den Moment genügt es ihr, sich mitziehen zu lassen.
Haare föhnen. In die CPUs, unter anderem wieder die schwarzen Jeans.
Spiegelweltmilch (die anders ist, wenn Cayce auch nicht sagen könnte, inwiefern) über das Weetabix, Bananenscheibchen dazu. Dieser andere Teil ihrer Person macht einfach voran. Sie guckt zu, wie dieses andere Ich schwarzes Bühnenklebeband über das Brandloch klebt, mit den Zähnen abgefetzte Stücke, eine altmodisch-punkige Note. Schlüpft in die Rickson, prüft, ob Schlüssel und Geld eingesteckt sind, und geht Damiens noch unrenoviertes Treppenhaus hinunter, vorbei am Mountain-Bike eines Mieters und hüfthohen Stapeln von alten Zeitschriften.
Auf der sonnenbeschienenen Straße alles still, nichts regt sich, außer einem verschwommenen zimtbraunen Fleck – eine davonhuschende Katze. Sie horcht. Dann von irgendwoher das anschwellende Brummen Londons.
Unerklärlich gut gelaunt geht sie den Parkway hinunter und findet einen Russen mit einem Mini-Taxi. Eigentlich ist es gar kein Taxi, nur ein staubiger blauer Spiegelwelt-Jetta, aber der Typ ist willens, sie nach Notting Hill zu fahren, und er scheint ihr zu alt, zu intellektuell, zu angewidert schon von ihrem bloßen Anblick, um irgendwie zum Problem zu werden.
Sobald sie aus Camden Town draußen sind, ist es mit ihrer Orientierung nicht mehr weit her. Sie hat keinen Londoner Stadtplan im Kopf. Nur den U-Bahn-Plan und diverse Fußwege rings um die U-Bahn-Stationen.
Die magenstrapazierenden Kreisel sind Dreh-und Angel—punkte eines Labyrinths, mit dem es nur Einheimische und Taxifahrer aufnehmen können. Restaurants und Antiquitäten—geschäfte rotieren vorbei, dazwischen in regelmäßigen Abständen Pubs.
Sie bewundert die schimmernden Beine eines schwarzhaari—gen Mannes, der sich in einem wahnsinnig teuer aussehenden Morgenrock nach der Milch und der Zeitung vor seiner Haustür bückt.
Ein Militärfahrzeug mit unvertraut mächtiger Stirn, stramm festgezurrter Plane. Das Barett des Fahrers.
Spiegelwelt-Straßeninventar: Elemente urbaner Infrastruktur, Versatzstücke, deren Funktion ihr schleierhaft ist. Hiesige Pendants zu der mysteriösen Wasserteststation in ihrem Up-town-Block, von der ein Freund behauptet hat, sie beherberge nicht mehr als einen Wasserhahn und einen Becher zum Prüfen der Trinkwasserqualität. Eine von Cayces liebsten Ausweichjob-Phantasien: durch Manhattan zu ziehen wie ein wandernder Sommelier und die verschiedenen Trinkwassersorten der Stadt zu verkosten. Nicht, daß das ihr Traum wäre, aber schon der Gedanke, daß man damit seinen Lebensunterhalt verdienen könnte, hat etwas Beruhigendes. Wobei sie allerdings nicht glaubt, daß das New Yorker Trinkwasser heute noch auf diese Art getestet wird.
Als sie in Notting Hill sind, scheint sich der energische Per-sönlichkeitsaspekt, der bisher die Regie hatte, davongemacht zu haben: Sie fühlt sich unentschlossen und verwirrt. Sie bezahlt den Russen, steigt auf der Portobello abgewandten Seite der U-Bahn-Station aus und hinab in eine Fußgängerunterführung, die nach Freitagabend-Urin riecht. Überall liegen überdimensionale Spiegelwelt-Bierdosen, zerquetscht wie Kakerlaken.
Korridor-Metaphysik. Sie will Kaffee.
Doch das Starbucks drüben auf der anderen Seite, die Treppe rauf und um die Ecke, hat noch zu. Drinnen manövriert ein junger Bursche riesige Plastiktabletts mit zellophanverpacktem Backwerk durch die Gegend.
Da sie nicht recht weiß, was tun, geht sie weiter, Richtung Samstagsmarkt. Halb acht jetzt. Sie kann
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