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Mustererkennung

Mustererkennung

Titel: Mustererkennung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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sich nicht mehr erinnern, wann die Antiquitätenarkaden aufmachen, weiß aber, daß die Straße um neun total verstopft sein wird. Was will sie hier?
    Sie kauft doch nie Antiquitäten.
    Sie hält immer noch Kurs auf die Portobello Road und den Markt und ist gerade in einer Straße mit sogenannten Mews, kleinen, beängstigend schnuckeligen Häuschen, als sie die Typen sieht: drei Männer mit hochgeschlagenen Jackenkragen.
    Sie starren in den Kofferraum eines kleinen, ungewöhnlich alten Spiegelweltwagens. Eigentlich ist es aber gar kein Spiegelweltwagen, sondern einfach ein englisches Auto, weil es auf Cayces Seite vom Atlantik kein Gegenstück gibt, das er spiegeln könnte. Vauxhall Wyvern, mischt sich ihr Markennamengedächtnis zwanghaft ein, obwohl sie bezweifelt, daß es einer ist, zumal sie sich gar nichts darunter vorstellen kann. Warum ihr die drei in dem Moment auffallen, wird sie später nicht genau sagen können.
    Die Straße ist ansonsten leer, und vielleicht sind es ja ihre ernsten Mienen. Das sorgsam kontrollierte Poker-Face. Der breiteste, wenn auch nicht größte der drei, ein Schwarzer mit rasiertem Schädel, steckt in einer wurstpellenartigen Reißverschlußjacke aus glänzend schwarzem, nur entfernt lederähnlichem Material. Neben ihm steht ein langer, graugesichtiger Typ in einer speckigen alten Barbourjacke, deren gewachster Baumwollstoff den Farbton abgelagerter Pferdeäpfel angenommen hat. Der dritte ist jünger, mit kurzgeschnittenem Blond—haar, schwarzen Skater-Shorts und einer verschlissenen Jeansjacke. Er trägt eine Art Postbotentasche, diagonal umgehängt.
    Shorts, denkt sie, als sie auf Höhe des Trios ist, sind in London irgendwie immer daneben.
    Sie kann sich nicht verkneifen, in den Kofferraum zu gucken.
    Granaten.
    Schwarz, gedrungen, zylindrisch. Sechs Stück auf einem alten grauen Pullover, zwischen lauter Pappkartonhälften.
    »Miss?« Der mit den Shorts.
    »Hallo?« Der Graugesichtige, scharf, ungeduldig.
    Sie sagt sich, daß sie wegrennen muß, kann aber nicht.
    »Ja?«
    Todesangst.
    »Die Curtas.« Der Blonde, der jetzt einen Schritt auf sie zu macht.
    »Das ist sie nicht, du Idiot. Sie kommt nicht, verdammte Scheiße.« Wieder der Graue, immer ärgerlicher.
    Der Blonde plinkert. »Sie sind nicht hier wegen Curtas?«
    »Was?«
    »Rechenmaschinen.«
    Jetzt kann sie endgültig nicht mehr widerstehen und tritt nä-
    her an das Auto heran, um genauer hinzugucken. »Was sind das für Dinger?«
    »Rechenmaschinen.« Die enge Plastikjacke quietscht, als der Schwarze sich bückt und eine der Granaten herausnimmt. Sich dann zu ihr dreht und ihr das Ding hinstreckt. Und plötzlich hält sie es in der Hand: schwer, kompakt, mit Rillen, Schlitzen und Noppen, damit man es besser greifen kann. In den Schlitzen winzige Schieberchen. Kleine runde Sichtfenster mit weißen Ziffern darin. Oben drauf etwas, das aussieht wie die Kurbel einer Pfeffermühle in der Version eines Kleinwaffenherstellers.
    »Versteh ich nicht«, sagt sie, überzeugt, daß sie gleich in Damiens Bett aufwachen wird, weil das Ganze wie ein absurder Traum ist. Automatisch dreht und wendet sie das Ding, sucht nach einem Markenzeichen. Und findet ein »Made in Liechtenstein.«
    Liechtenstein?
    »Was ist das?«
    »Ein Präzisionsgerät«, sagt der Schwarze, »das Rechenvor—gänge mechanisch durchführt, ohne Strom oder elektronische Komponenten. Das Gefühl, wenn man es bedient, läßt sich am ehesten mit dem Aufziehen einer klassischen Fünfunddreißig—Millimeter-Kamera vergleichen. Es ist die kleinste mechanische Rechenmaschine aller Zeiten.« Tiefe, einschmeichelnde Stimme.
    »Entwickelt von Curt Herzstark, einem Österreicher, der als Häftling in Buchenwald war. Die Lagerleitung hat ihn sogar zu dieser Arbeit angehalten. ›Intelligenzsklave‹, so nannte er seinen Status dort. Sie wollten seine Rechenmaschine bei Kriegsende dem Führer übergeben. Aber dann wurde Buchenwald 1945
    von den Amerikanern befreit. Herzstark war noch am Leben.«
    Er nimmt ihr das Ding behutsam ab. Mit riesigen Händen. »Er hatte die Pläne noch.« Mächtige Finger, die mit sicheren, sanften Bewegungen die schwarzen Schieber in eine andere Konfi-guration bringen. Er hält den gerieften Zylinder mit der linken Hand, dreht mit der rechten die Kurbel auf der Oberseite. Setzt im Inneren ein leichtgängiges Rechenwerk in Bewegung. Er hält das Ding in Augenhöhe, studiert in einem Sichtfensterchen das Resultat. »Achthundert Pfund. Erstklassiger

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