Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
vorweisen musste, um ein- und herumreisen zu dürfen. Für die Mongolei war diese feste Reiseroute zwar nicht gesetzlich vorgeschrieben, wurde aber stark empfohlen, wenn man vor Ort nicht viel Zeit mit Organisieren verlieren wolle. Denn: Demokratie und freie Marktwirtschaft waren in der Mongolei noch jung und unerfahren. Touristische Unternehmen, die seit Jahrzehnten stark planwirtschaftlich agierten, so hieß es, täten sich schwer, ihr Verhalten plötzlich um 180 Grad zu verändern und auf den Kunden auszurichten. Außerdem sei die touristische Saison im September so gut wie vorbei. Die Gefahr, vor Ort niemanden mehr anzutreffen, der mich unterstützen wolle, sei nicht zu unterschätzen. Da es in der Mongolei kaum Straßen gebe, sei man auf fremde Hilfe beim Entdecken der Vielfalt des Landes angewiesen. Es sei denn, man wolle sich nicht mehr als einige Kilometer von Ulan-Bator entfernen oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln reisen. Die fuhren aber langsam, hielten wegen technischer Defekte oft außerplanmäßig und waren meist überfüllt. Nur hinsichtlich der Wahl meiner Reiseroute in China war ich frei. Lediglich eine Hoteladresse für meine erste Station müsste ich in den Visumsantragsformularen angeben.
Ich entschied, spielerisch an die Planerei heranzugehen: Ich war bereit, mich für Russland und die Mongolei vorab auf eine Route festzulegen. Wollte aber alternative Routen recherchieren und dann vor Ort entscheiden, ob ich von dem einmal gebuchten Plan abweichen wollte oder nicht. Auch die generelle Möglichkeit der Planabweichung wollte ich vor Ort austesten: Würden mich russische und sibirische Hotels überhaupt aufnehmen ohne vorherige Anmeldung durch einen Reiseveranstalter? Würde ich vor Ort Menschen finden, die unsere spontanen Reisewünsche erfüllen wollten? Oder drohte Levi und mir im Fall der Planabweichung die russische Sicherungsverwahrung aufgrund frevelhaften Verhaltens? War es ratsam, im Rahmen eines dreiwöchigen Mongoleiaufenthaltes spontane Abweichungen der Reiseroute mit den Menschen vor Ort zu besprechen? Könnte ich mich verständlich machen? Oder träfe ich auf taube Ohren, weil so etwas einfach nicht vorkam? Weil die Mehrzahl der Besucher entweder in vorgefertigten Gruppenprogrammen durch das Land brausten oder allein im eigenen Bus im Rahmen monatelanger Auszeiten?
War es nicht mit dem kleinen Levi ein unverzichtbares Sicherungsnetz, die Route zumindest grob vorab geplant zu haben? Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit Levi mir unterwegs für organisatorische Kapriolen lassen würde. Und irgendwie fühlte es sich bei unserem abenteuerlichen Vorhaben ganz gut an, dass in den hintersten Ecken dieser Welt jemand auf uns wartete. Und dieser Jemand würde vielleicht einige helfende Hebel in Bewegung setzen, sollten wir zur vereinbarten Zeit nicht am vereinbarten Ort eintreffen? Die Strategie, mich vordergründig und formal zur Abwechslung an die Regeln zu halten und dann vor Ort zu schauen, inwiefern ich daraus ausbrechen möchte und könnte, erschien mir für unsere Mission zweckmäßig.
Hätte ich mit meinem Sohn nach Afrika, in den Himalaja oder nach Südamerika reisen wollen, hätte ich auf mein eigenes Netzwerk an Reisepartnern zurückgreifen können, deren Ziel es ist, selbst die für die meisten Menschen ungewöhnlich klingenden Reisewünsche in die Tat umzusetzen. Noch heute spreche ich mit meinem bhutanischen Partner über die Dame im Rollstuhl, die zum Chomolhari Base Camp trekken wollte. Kurzerhand wurden eine Trage gebaut und ein paar Träger mehr engagiert. Die Dame war so unendlich glücklich und stolz auf dieses Erlebnis, welches ihr die meisten Reiseveranstalter, die sie vorab kontaktiert hatte, hatten ausreden wollen. Viele Reiseunternehmer scheinen nicht zu wissen, dass sie es manchmal mit überlebenswichtigen Kundenwünschen zu tun haben. Mit lebensverändernden Geschichten, die erlebt werden wollen. Müssen.
So. Und nun musste ich ihn also finden, den Planungspartner mit individuellem Anspruch und Interesse am etwas Ungewöhnlichen: Transsib. Mit Baby. Startschuss in zwei Wochen. Ohne Gruppenanschluss.
Warum ich denn unbedingt in zwei Wochen schon los wolle, fragte der nächste Kandidat. »Weil ich mindestens zwei Monate unterwegs sein möchte. Und der Reiseführer behauptet, dass es nach Mitte September in der Mongolei kalt bis bitterkalt wird. Und ich denke, dass es mit Baby in einer Jurte bei zehn bis 20 Grad minus etwas ungemütlich werden könnte«,
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