Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
erwachsene Stimme aus dem Hintergrund, dass wir ja auch ein bisschen warten könnten.
»Klar«, sage ich, »können wir. Aber es ist nicht nötig.«
»Das versteht mein Sohn noch nicht«, sagte die Stimme, und der Sohn grinste dazu. Also steuerten Levi und ich um einige Erfahrungen reicher wieder den Sandkasten an. In der Ecke, die ich Levi aus unserer Wickeltasche gebaut hatte, saß nun ein dreijähriger Junge. Sein Vater saß daneben und tippte mit großem Enthusiasmus etwas in sein Mobiltelefon.
Eine Gruppe von Fünfjährigen, die schon eine ganze Weile über den Spielplatz jagten, entschlossen sich, den Sandkasten zum Zentrum ihrer wilden Verfolgungsjagd zu machen und die enge Trasse zwischen Levi und dem Sandkastenrand zur Erfolg versprechenden Fluchtroute. Dabei war einer der Verfolger darauf aus, möglichst unauffällig, aber doch zielgenau Levis Hände zu treffen. Ich stoppte den Flüchtigen und erklärte, dass es nicht gut sei, anderen Kindern auf die Hände zu treten, und dass insbesondere große Kinder auf kleine Kinder aufpassen sollten. Der Treter sagte, der Kleine hätte versucht, ihm ein Bein zu stellen, und suchte mit den Augen nach seiner Mutter, die just in dem Moment das dringende Bedürfnis nach einem Cappuccino verspürte, uns den Rücken zukehrte und mit einem Baby in Levis Alter in der Babytrage den Spielplatz Richtung gegenüberliegendes Café verließ.
Also schlenderten wir zum Klettergerüst. Ein älterer Junge hing wie ein trauriger Kartoffelsack in einem professionellen Klettergurt, ein ernst dreinblickender Vater in perfekter Outdoormontur sicherte das Kerlchen und schimpfte: »Jetzt konzentrier dich mal, Quirin. Gestern ging das doch viel besser. Ich denke, du willst im Sommer mit mir in die Berge? So wird das nichts!« Quirin heulte dazu: »Ich will auf die Wippe, mit Katja!« und hangelte sich mit weißer Nasenspitze weiter nach oben zur sicheren Plattform.
In Gedanken versunken, kramte ich mein Mittagessen, einen Müsliriegel, aus der Jackentasche. Sofort war ich von drei Kindern umringt, die auch ein Stück haben wollten. Komischerweise hörte ich diesmal keine Stimmen aus dem Hintergrund. War mir neu, dass im Münchner Glockenbachviertel Kinder Hunger leiden. Und dennoch hatte ich keine Lust zu teilen. Also sagte ich: »Nein, ich möchte nicht teilen. Ich habe riesigen Hunger.« Nach intensiver Diskussion mit einem besonders hartnäckigen blondbezopften Mädchen, die zu eskalieren drohte, als ich das letzte Stück Müsliriegel in meinen Mund steckte, packte ich Levi in seinen Kinderwagen, sammelte die verbliebene Hälfte seines Spielzeugs zusammen und verließ den Spielplatz.
War das ein Blick in die Zukunft unserer Gesellschaft? Oder einfach stinknormaler Alltag in Deutschland, dem ich in den letzten Jahren erfolgreich aus dem Weg gegangen war, auf Flughäfen, in Hotels und den Straßen der Metropolen dieser Welt?
Mäh?
An jenem Abend erklärte ich meine Mission Mutterschaf offiziell für gescheitert. Nach sechs Wochen konnte ich nicht mehr. Weniger, weil Levi überraschenderweise manchmal schrie, ich mitlitt und es trotzdem irgendwann nicht mehr aushalten konnte. Mich dafür hasste, dass mir bei 24 Stunden Levizeit pro Tag das Weinen meines Sohnes nicht nur an die Nieren, sondern auch auf die Nerven ging. Ich brauchte Pausen. War das in Ordnung?
Vor allem scheiterte die Mission Schaf, weil ich zwischen den Herden der anderen Mutter- und Vaterschafe niemanden gefunden hatte, mit dem ich mich identifizieren konnte. Niemanden mit leuchtenden Augen. Also: Es gab sie bestimmt. Aber ich hatte sie nicht gefunden. Keine Herde, der ich mich hätte anschließen wollen.
Und jetzt? Wo waren die Vorbilder? Die uns Orientierung und Mut geben könnten in dieser Phase des Umbruchs? Immerhin fand ich zahlreiche Freunde und Bekannte, die sich über klassische Mutter- und Vaterschafe und deren Geblöke lustig machten. Dann musste es doch auch Eltern geben, die irgendwie anders waren? Aber vielleicht war das so wie mit den Deutschen und dem Urlaub: Fast jeder Deutsche, den ich im Urlaub getroffen hatte, regte sich darüber auf, dass in Deutschland alle so verschlossen und grimmig seien. Wenn all jene Deutschen sich in Deutschland offen und fröhlich benehmen würden …!?
Ein russischer Freund macht unseren Aufbruch möglich – fast
»Solange Ihr Baby noch nicht rumkrabbeln möchte und am liebsten auf dem Schoß seiner Mutter sitzt, steht, auf und ab wippt, ist so eine Reise wunderbar.
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