Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
korrekten Sitz des Gurtes um den Maxi-Cosi, in dem Levi zufrieden vor sich hin schnarcht.
Erstaunlich, dass ich auf den Straßen rund um Peking nicht mehr Unfälle gesehen habe, schießt es mir durch den Kopf, als wir uns an meinem ersten chinesischen Auffahrunfall auf der Nebenspur vorbeischlängeln. Die beiden Frauen der beteiligten Paare stehen sich wie Kampfhennen gegenüber, die eine schreit wild, die andere kann nur durch beherztes Zupacken ihres Mannes davon abgehalten werden, handgreiflich zu werden. So viel zu dem Stereotyp der chinesischen Gelassenheit.
Kurze Zeit später steigen wir am Flughafen aus. Der Fahrer holt uns im Laufschritt einen Gepäckwagen, und mit Levi im Kinderwagen schlendere ich los Richtung Check-in. Soll das Schicksal entscheiden.
Am Check-in-Schalter stehen keine Passagiere mehr, aber die blau-gelben Mitarbeiterinnen sind noch da. Auf unserem Weg zur Sicherheitskontrolle kaufe ich Levi ein chinesisches Bilderbuch. Pass- und Sicherheitskontrolle passieren wir ohne längere Pausen an den verwaisten Kinder- und Versehrtenschaltern. An manchen Flughäfen, wie in München, gibt es derartige Schalter leider gar nicht. Oder es drängen sich, wie in Los Angeles, auch hier kinderlose unversehrte Personen. Die Kontrolle der als Babynahrung mitgeführten Flüssigkeiten wirft uns zeitlich nicht allzu weit zurück, und so kommen wir entspannt an unserem Gate an, bevor das Einsteigen überhaupt begonnen hat.
Das Schicksal hat entschieden: München, wir kommen!
Als wir wenig später auf unserem Fensterplatz im deutschen Flugzeug sitzen, entgleisen einigen der Anzugträger die ernsten Gesichtszüge. Ich lache darüber hinweg, habe ich doch vor Levi ähnlich gedacht: Oh Gott, ein Baby, das war es mit meiner Ruhe. Meinem Schlaf. Stolz stelle ich fest: Es ist mir egal, was die anderen denken.
Vor der Reise fiel es mir mit Levi schwer, mich von den Stimmungen, den negativen Erwartungen unseres Umfeldes hinsichtlich Kindern abzukoppeln. Und jetzt: nichts. Keine Nervosität. Kein Bestreben, alles extragut und betont gelassen zu machen, um die Menschen neben uns zu beruhigen. Kein Satz der Art »Normalerweise ist mein Sohn auf Reisen unkompliziert«. Nur ein kleines bisschen Mitleid mit meinen blassgrauen Mitreisenden: Wenn die wüssten, was sie dadurch, dass sie nach Ruhe suchen, alles verpassen!
Neben uns nimmt ein fröhlicher Italiener Platz. Er hat selbst drei Kinder und nimmt sofort Kontakt zu meinem zunehmend begeisterten Sohn auf.
Wir tauschen uns über die Skurrilitäten aus, die wir als Reisende mit Kindern mit unseren Mitmenschen schon erlebt haben, und einigen uns darauf, dass es durchaus verständlich ist, dass manche Eltern es vorziehen, nicht zu verreisen. Sich der Ungeduld und dem Unverständnis ihrer Mitreisenden nicht auszusetzen. Zu Hause ist vieles vordergründig bequemer, weil bekannt.
Zu Hause ist es aber auch einfacher, es sich bequem zu machen. Und vielleicht reisen manche Menschen deswegen nicht so gerne. Zu Hause fehlt oft der kleine Schubs, der nötig ist, um ins Gespräch zu kommen, eine Einladung anzunehmen, einfach etwas anders zu machen, als andere oder man selbst von sich erwarten.
Als Levi irgendwann einschläft und auch dem Italiener neben uns die Augen zufallen, beschließe ich: Neugier, Gelassenheit, Spaß am Ungeplanten und Offenheit anderen Menschen gegenüber gehören nicht nur ins Reisegepäck, sondern auch in die Handtasche für Zuhause. Ich möchte überall und vor allem auch in München so leben wie auf Reisen!
Den passenden Sohn dafür habe ich. Das hat mir unsere Reise gezeigt. Den Mann auch. Und auch unsere vier Wände zu Hause nähren und fordern täglich meine reisende Seele. Jetzt liegt es ganz allein an mir. Habe ich den Mut und die Stärke für mein Leben zu Hause? Für unser Leben!
Kurz bevor ich einschlafe, kommt mir ein beruhigender Gedanke: Spätestens in einem Jahr brechen Levi und ich wieder auf. Zu unserer zweiten Familienmission. Was soll uns da schon passieren!
Einige Stunden später stehe ich mit Levi in der Babytrage in der Schlange vor dem Geldautomaten in der Gepäckausgabehalle des Münchner Flughafens. Neben uns die nicht mehr ganz so volle, aber von der Reise sehr staubige Reisetasche, der mit Levis Babybrei verzierte Seesack, der Kinderwagen und der geliebte Rucksack mit der gelben Blume. Meine Trekkingkluft zeigt deutliche Gebrauchsspuren, und auch Levis T-Shirt ist nicht mehr ganz frisch.
»Sie sehen so aus, als seien Sie am
Weitere Kostenlose Bücher