Mutterliebst (German Edition)
sie die Stahltür des Hintereingangs erreicht, schiebt sie vorsichtig den Kopf hindurch und schaut sich aufmerksam um. Niemand zu sehen. Überall in Maitland sind die Lichter ausgeschaltet. Es muss einen massiven Stromausfall gegeben haben. Abgesehen von ein paar Gebäuden, in denen ein grünliches Licht schimmert, ist es stockfinster. Das müssen die Notstromaggregate sein. Danielle schlüpft nach draußen und geht auf Zehenspitzen um die Ecke des Gebäudes. Sie hört Stimmen. Die Schwester kommt aus dem Wald gelaufen, der weiße Rock bläht sich hinter ihr wie ein Segel. Ihr persönlicher Lancelot ist nirgendwo zu sehen.
Danielles Herz pocht so heftig, dass ihr übel wird. Ganz offensichtlich ist sie nicht für das Leben als Kriminelle geschaffen. Zeit, sich zu ergeben oder zu fliehen. Als die Schwester außer Sicht ist, sprintet sie mit Höchstgeschwindigkeit quer über das Gras. Taschenlampen blitzen überall um sie herum auf; ihre Lichter hüpfen um sie herum wie kostümierte Kinder, die an Halloween nach Süßigkeiten suchen. Ihre dunkle Jeans und das schmutzige graue Sweatshirt sind zwar nicht unbedingt Tarnkleidung, aber es muss reichen.
„Verdammte Rehe“, flucht eine Stimme irgendwo hinter ihr. „Wie Ratten. Die sind überall.“
Danielle erreicht eine Baumgruppe und wird eins mit ihr. Das Licht springt davon, erhellt jetzt die Fountainview-Station. Sie legt eine Hand auf die Brust und ringt nach Atem. Selbst als die Luft längst rein zu sein scheint, hält sie sich noch weiter hinter den Bäumen versteckt und rührt sich nicht. Eine geschlagene Stunde lang. Eins, zwei, drei, und du bist frei.
14. KAPITEL
Danielle wartet in Maitlands Hauptkonferenzzimmer – demjenigen mit der Tafel und dem großen Tisch in U-Form. Wenn es nach ihr geht, kann das Meeting gar nicht schnell genug beginnen. Diesmal wird sie bestimmen, wo es langgeht.
Nach den bizarren Entdeckungen der vergangenen Nacht bestand ihr erster Impuls darin, schnurstracks in die Fountainview-Station zu marschieren und Max da herauszuholen, doch bei näherer Betrachtung kam sie zu dem Schluss, dass das eventuell zu kurzsichtig wäre. Ihre nächtlichen Straftaten werfen zwar einerseits Licht ins Dunkel ihrer Verwirrung, aber sie verschlimmern sie auch. Sie hat keine Ahnung, wie sie die Beobachtungen zu einem Max einschätzen soll, den sie nicht kennt. Als Reyes-Moreno ihr an diesem Morgen eine weitere Nachricht hat zukommen lassen, in der sie anfragt, ob Danielle eine Entscheidung bezüglich Max’ Langzeitaufenthalt in Maitland gefällt hat, da ist ihr eine blitzartige Idee gekommen. Sie hat Reyes-Moreno mitgeteilt, dass sie erst eine Unterredung von Angesicht zu Angesicht mit dem ganzen Team wünsche, ehe sie eine solche Entscheidung treffen könne.
Danielle blickt auf ihre Uhr. In wenigen Minuten hat sie die Möglichkeit, das gesamte Ärzteteam zu konfrontieren. Sie hat bereits beschlossen, dass sie sofort für Max’ Entlassung sorgen und ihn zurück nach New York bringen wird, egal was die Ärzte ihr sagen. Sobald sie einmal in New York ist, wird sie Dr. Leonard kontaktieren und von ihm eine Überweisung erbitten, damit sie eine zweite Meinung einholen kann. Keinesfalls wird sie Max auf unbestimmte Zeit hier zurücklassen, solange es keine externe – und unwiderlegbare – Bestätigung von Maitlands Diagnose gibt.
Doch was, wenn die Einträge und Reyes-Morenos Diagnose stimmen? Ihre überragende Fähigkeit, Fakten zu sortieren und zu bewerten – etwas, was ihr als Anwältin zugutekommt –, hat sie hier komplett im Stich gelassen. Von Neuem versucht sie, die widerstreitenden Szenarien, die durch ihr Gehirn rasen, zu ordnen. Wenn Max wirklich psychotisch veranlagt ist, wie ist es dann möglich, dass sie niemals irgendwelche Anzeichen bemerkt hat? Max hätte doch sicherlich irgendetwas dieser Art in ihrer Anwesenheit gesagt oder getan? Dann erinnert sie sich an den Tag, an dem sie Max’ Tagebuch gefunden hat und darin seinen detaillierten Plan, sich umzubringen – wovon sie rein gar nichts geahnt hat. Sie erinnert sich auch an die beängstigende Frage, die er ihr zu Anfang dieses Albtraums gestellt hat: „Was tun wir, wenn sie behaupten, dass ich wirklich verrückt bin?“ Als er merkte, dass sich sein Zustand verschlimmerte, hatte Max vielleicht sein Möglichstes versucht, um vor ihr normal zu wirken, in der verzweifelten Hoffnung, dass seine Mutter ihn nicht dazu verurteilen würde, auf unbestimmte Zeit in Maitland bleiben zu
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