Mutterliebst (German Edition)
soll „Fokus auf Mutter-Sohn-Beziehung“ heißen? Dass Fastow es wagt, etwas Schädliches in ihrer Beziehung zu Max zu vermuten, ist niederschmetternd. Ihre Erinnerung rast zurück zu dem Tag von Max’ Einlieferung. Wie hatten sie sich gegenüber einander verhalten? Natürlich war Max ängstlich und wütend auf sie gewesen; natürlich hatte er um sich geschlagen, als Dwayne ihn zwang, auf die Station zu gehen. Schließlich hatte er eine Heidenangst. Das ist doch sicherlich völlig normal für einen Einlieferungstag. Sie liest weiter.
Tag 12 Vorfall in Cafeteria. Patient verliert die Beherrschung in der Warteschlange. Schlägt Kind, beschimpft die Serviererin, wirft mit Tabletts um sich. Wird von Dwayne zur Station zurückgebracht, zerstört sein Zimmer; Isolation/starke Sedierung. Danach: Patient hin und wieder psychotisch; Verdacht auf schizoaffektive Störung und/oder Cotard-Syndrom (aufgrund von Depression und Derealisation des Patienten). Schübe kommen nur spät nachts. Patient hat am nächsten Morgen keine Erinnerung daran. Tricyclis/SSRI zeigt keine Wirkung; Elektroschocktherapie angedacht. R-M
Danielle keucht. Cotard-Syndrom? Elektroschocktherapie? Niemand hat ihr gegenüber auch nur ein Wort darüber verloren – nicht mal Reyes-Moreno, als sie diese Diagnose verkündet hat, die einem Todesstoß gleichkam. Ein unfassbarer Gedanke durchzuckt ihr Gehirn: Erfinden sie diese Sachen? Sie schüttelt den Kopf. Das ist zu verrückt. Aber warum hat ihr niemand die Wahrheit darüber gesagt, was Max durchmacht? Wie oft sie ihn wohl sediert haben – abgesehen von dem einen Mal, bei dem er die Überdosis bekommen hat? Und wie oft haben sie ihn in „Isolation“ gesteckt? Reyes-Moreno erwähnte nur den einen Fall. Danielle sieht Max vor sich, wie er in dem gepolsterten Raum liegt und verzweifelt ihren Namen ruft, seine Hände und Füße mit weißen Leinenstreifen zusammengebunden, um verräterische Fesselspuren oder -wunden zu vermeiden.
Das alles klingt mehr nach einer unheimlichen Szene aus „Einer flog über das Kuckucksnest“ als nach der anerkannten Vorgehensweise in der renommiertesten psychiatrischen Klinik des Landes.
Und warum erwähnen sie nicht ein einziges Mal seine Asperger-Erkrankung? Übertrumpft die Psychose den Autismus? Den letzten Satz darf Danielle gar nicht an sich heranlassen. Nur über ihre Leiche wird sie tatenlos zusehen, wie sie Max festschnallen, ein Stück Holz in seinen Mund schieben und sein Gehirn unter Strom setzen. Sie zittert am ganzen Körper. Sie muss ihn hier rausholen – jetzt sofort.
Es bleiben ihr nur noch wenige Minuten. Rasch scrollt sie herunter, um sich noch ein paar weitere Eintragungen anzusehen. Beobachtungen von der Spieltherapie. Erzieherische und psychiatrische Tests, die angefangen wurden, aber aufgrund der einschläfernden Wirkung der Sedativa und wegen Max’ verwirrtem Geisteszustand abgebrochen worden waren. Wiederholung von Max’ Selbstmordgedanken. Sie blättert vor zu dem Eintrag des heutigen Tages.
Team Meeting. Patient geübt darin, seine Symptome vor der Mutter zu verbergen. Gibt zu, dass er keine psychotischen Gedanken erwähnt hat. Gewalttätige Schübe des Patienten sind echte Bedrohung für sich selbst und andere; Patient durchleidet schwerwiegende Störungen; auditive/visuelle/taktile Halluzinationen. Droht weiterhin mit Selbstmord.
Diagnose: Schizoaffektive Störung, Psychose …
Die Monitoranzeige wird Schwarz.
Danielle erstarrt, ihre Hände verharren regungslos über der Tastatur. Jemand muss entdeckt haben, dass die Karte verschwunden ist, und versucht, sie aufzustöbern, indem er ihr einen Heidenschrecken einjagt. Sie springt auf und stößt sich die Hüfte an der Tischkante. „Verdammt!“ Rasch legt sie das Ohr an die Tür, öffnet sie einen Spalt und späht hinaus. Der Gang liegt in tiefschwarzer Dunkelheit da. Danielle hört und sieht nichts. Leise schließt sie die Tür und duckt sich unter den Tisch. Selbst wenn ihr Herz kurz vor einem Infarkt steht, ihr Gehirn hat sich noch nicht völlig verabschiedet. Sie schaltet den Rechner aus. Nicht dass morgen früh jemand zum Wischen hereinkommt und Max’ Daten auf dem Bildschirm entdeckt. Sie richtet sich wieder auf, knipst die Taschenlampe aus, schnappt sich ihren Schal und schiebt die Karte zurück in ihre Hosentasche. Auf Zehenspitzen schleicht sie auf den Gang – niemand da.
Danielle tastet sich den dunklen Korridor entlang, indem sie sich mit den Händen an der Wand abstützt. Als
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