Mutterliebst (German Edition)
Großmutter, die sanft die Hand ihrer puppenhaften Enkelin hält, deren pinkfarbenes Taftkleid die hässlichen, wulstigen Narben auf den kaffeebraunen Beinen nur unzureichend bedeckt.
„Selbst zugefügt“, flüstert Marianne. „Die Mutter ist davongelaufen – sie konnte es nicht mehr ertragen.“
Joans stechende Augen suchen nach einem Opfer und saugen sich an Danielle fest. Die versteift sich.
Marianne tätschelt Danielles Hand und meldet sich schnell zu Wort. „Ich mache weiter.“ Ihre Stimme klingt wie sanfter Honig. „Mein Name ist Marianne Morrison.“
Danielles Seufzer hallt durch den Raum. Sie lehnt sich zurück und versucht, ihren Arm um Max zu legen, doch der schüttelt ihn ab. Also betrachtet sie die Frau, die sie gerettet hat.
Marianne wirkt wie eine frische Blüte. Die Falten ihres weinroten Rocks sind ganz akkurat und bilden einen perfekten Kreis über ihren Knien. Die schimmernde Bluse reflektiert den Glanz einer eleganten Perlenkette und lenkt den Blick auf den schlichten Goldring an ihrer linken Hand. Ein blonder Pagenschnitt umrahmt das ovale Gesicht. Das makellose Make-up spiegelt die Sorgfalt wider, die allen Südstaatenfrauen zu eigen zu sein scheint. In Mariannes Fall betont es die Apartheit ihrer Züge, vor allem die vollen Lippen und die intelligenten blauen Augen. Neben dieser Frau ist sich Danielle ihres eigenen strengen schwarzen Hosenanzugs, der dunklen Haare und blassen Haut überdeutlich bewusst. Sie trägt weder Schmuck noch Uhr oder Make-up. In Manhattan sieht man ihr sofort an, dass sie eine Karrierefrau ist. Neben Marianne kommt sie sich wie eine Sargträgerin vor. Sie blickt hinunter. Die Tasche neben Mariannes Stuhl quillt beinahe über vor praktisch aussehenden Dingen. Danielles Gefühl der Unzulänglichkeit verstärkt sich – etwa so, wie wenn eine der Mütter an Max’ Grundschule eine selbst gefertigte Decke mit allen Handabdrücken der Kinder zur Schulversteigerung mitbrachte und Danielle stattdessen Geld gespendet hatte.
„Das ist mein Sohn Jonas.“ Als er seinen Namen hört, schüttelt der Junge den Kopf und blinzelt heftig. Er bewegt unaufhörlich die Hände. Mit den Fingernägeln kratzt er über vernarbte Striemen auf seinen Armen. Instinktiv schiebt Danielle die Ärmel ihrer Bluse weiter hinunter. Jonas wiegt sich vor und zurück und testet dabei die Gummistopper des Stuhls, die laut über den Fußboden quietschen. Währenddessen gibt er sanfte, leicht grunzende Laute von sich – unablässige Bewegung und Geräusche.
„Was gibt es über mich zu sagen? Ich stamme aus Texas und habe lange Jahre als Kinderkrankenschwester gearbeitet.“ Das überrascht Danielle nicht. Doch was als Nächstes kommt, erstaunt sie schon sehr.
„Genau genommen habe ich Medizin studiert, aber den Beruf nie ausgeübt.“ Sie deutet mit dem Kopf auf ihren Sohn. „Ich habe mich dazu entschlossen, zu Hause zu bleiben und mich um meinen Jungen zu kümmern. Das ist das Wichtigste, was es zu mir zu sagen gibt.“ Sie faltet die Hände und zeigt das vielleicht schönste Lächeln, das Danielle je gesehen hat. Ihre gewinnende Art ist einfach ansteckend. Alle Eltern lächeln und nicken ihr zu.
„Bei Jonas wurden eine verlangsamte Entwicklung und Autismus diagnostiziert, und er kann nicht wirklich sprechen.“ Marianne tätschelt das Knie des Jungen. Er zeigt keine Reaktion darauf. Sein Blick schwirrt in dem Raum umher, während er weiterhin vor und zurück schaukelt und sich heftig kratzt. Die Haut seiner Arme ist bereits so rot wie gefrorene Cranberries. „Schon als kleiner Junge hat er sich so verhalten“, fährt sie fort. „Natürlich ist es unheimlich schwierig, der Herausforderung gerecht zu werden, die die Bedürfnisse unserer Kinder an uns stellen, aber ich gebe mein Bestes mit Gottes Hilfe.“ Während sich mitfühlende Blicke der Eltern auf sie richten, erstrahlt Marianne wie ein bunter Regenbogen nach einem kräftigen Schauer. „Sein Vater – nun, er lebt nicht mehr, Friede seiner Seele.“ Sie schlägt die Augen nieder. „Vor Kurzem ist Jonas gewalttätig geworden, und er fügt sich selbst Verletzungen zu. Ich möchte, dass er die bestmögliche Behandlung erhält. Deshalb sind wir hier.“
Nachdem sie zu Ende gesprochen hat, beginnen alle zu applaudieren, allerdings nicht zu sehr. Es ist beinahe wie in einem klassischen Konzert. Ein- oder zweimal gilt als höflich. Mehr wäre jedoch nicht mehr respektvoll. Marianne flüstert Jonas etwas in einer Art Babysprache ins
Weitere Kostenlose Bücher