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Muttersoehnchen

Muttersoehnchen

Titel: Muttersoehnchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Fink
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die Kommentare der Lehrerin schon gar nicht. So erfahre ich nichts über den verwirrten Knaben zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Ich sehe nur jede Menge rote Kringel um Satzzeichen, verkehrte Groß- und Kleinschreibung und den falschen Einsatz von »ss« oder »ß«.

    Bei Maiks Einschulung 1997 gab es viel Neues aus Bullerbü. Die umstrittene Rechtschreibreform war bereits seit einem Jahr in Kraft. Sie sollte den Kindern, uns allen, die Rechtschreibung vereinfachen
und logischer machen. Die neuen Regeln veränderten den Gebrauch von Doppel-s und ß (daß > dass), der Dreifachkonsonanten (Schiffahrt > Schifffahrt), der Groß- und Kleinschreibung (heute abend > heute Abend) und einiger Fremdwörter (Photo > Foto). Zusammengesetzte Wörter wurden von nun an auseinander geschrieben (Seeelefant > See-Elefant). Es wurde anders getrennt und die Orthografie großzügiger ausgelegt. Unser alter Leitsatz Trenne nie st, denn das tut ihm weh! galt nicht mehr. Der Schwester und dem Kasten ging es am Zeilenende jetzt mittendurch, dafür diente ein Komma nur noch dem besseren Verständnis eines Satzes und folgte keiner klaren Regel mehr. Alles nach Gefühl. Dem eigenen, versteht sich.
    Und ich fühlte mich bald wie ein Analphabet, während sich Befürworter und Kritiker in den folgenden Jahren eine unerbittliche Schlacht lieferten, die zu diversen Anpassungen der Reform führte. Unabhängig davon hatte unsere Grundschule gerade die Einführung der Lesen-durch-Schreiben-Methode verbindlich beschlossen. Das Lesen war demnach ein Begleitprodukt des Schreibens. Die gesprochene Sprache wurde so aufgeschrieben, wie man sie verstanden hatte und zwar vom ersten Tag an. Als Hilfsmittel diente eine Anlauttabelle, bei der jedem Laut ein Bild zugeordnet war: A wie Affe, Au wie Auto, Eu wie Eule.
    An einem Elternabend wurde uns zur Verdeutlichung eine besondere Anlauttabelle vorgelegt. Anstatt Buchstaben waren den Bildern fremde Symbole zugeordnet, und damit sollten wir erst unseren Namen und dann den unseres Nachbarn schreiben. Das war sehr lustig und erklärte das Prinzip einleuchtend. Im vorangeschrittenen Lernprozess sollte der Schüler die Symbole schließlich auswendig kennen und die Anlauttabelle nicht mehr brauchen. Der Schweizer Reformpädagoge und ehemalige Lehrer Dr. Jürgen Reichen hatte diese Methode entwickelt und vermittelte sie am Hamburger Institut für Lehrerfortbildung. Er erwartete primär eine gesteigerte Freude am Schreiben und in der Folge am Lesen, und er sah darin eine praktikable Möglichkeit auf das individuelle Lerntempo der Schüler einzugehen.
    Lesen durch Schreiben war quasi selbstgesteuertes Lernen, denn das gemeinsame Fibellernen, heute a und morgen b, entfiel. Wie
auch das laute Vorlesen, bei dem schwächere Schüler in der Vergangenheit gezwungen waren, sich bloßzustellen. Die Lehrerin verbreitete Optimismus und bat um Verständnis: Für mich ist’s ja auch neu. Aber zusammen schaffen wir das schon. Wir wurden von dem lustigen Elternabend mit der dringenden Bitte verabschiedet, unsere Kinder nicht zu korrigieren. Wenn sie etwas falsch schrieben, sollten wir es nicht verbessern, denn sonst nähmen wir ihnen die Freude daran. Oh, Mann, das fiel mir schwer! Und was heißt zusammen?

    Das ist lange her. Jetzt unterbricht das Knirschen von Autoreifen auf unserem Schotter meine Gedanken an früher. Eine Tänzerin mit Führerschein bringt Lysa heim. Es ist jetzt viertel nach elf, um acht Uhr hatten sie mit dem Training begonnen. Lysa ist ziemlich ausgepowert, aber an der Leistungsgrenze wirkt sie immer besonders locker. Ich frage sie, ob sie den verwirrten Törleß entziffern kann. Nicht flüssig, aber besser als ich liest sie, dass es um die Identitätsfindung pubertierender Internatsschüler geht. Und besonders um einen, der sich in dem Provinzinternat sehr einsam und leer fühlt, was ihn aber nicht daran hindert, bei den Quälereien und Erpressungen eines Mitschülers mitzumachen.
    Törleß sei hin- und hergerissen zwischen der gutbürgerlichen Moral seiner Herkunft und den Ansichten seiner vermeintlichen Freunde im Internat, erläutert mir meine Tochter. Aber schließlich werde alles gut, er entwachse der Pubertät als feingeistiger, empfindsamer junger Mann. »Ein Leben nur unter Jungs ist kaum vorstellbar«, sage ich und küsse mein Mädchen zur Nacht. »Das sieht auch nicht nach einem Ponyhof aus«, erwidert sie mit breitem Grinsen. Dann wecke ich Rolf, der schon auf dem Sofa eingeschlafen ist.

    Lysa

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