Muttersoehnchen
den Sanitätsdienst. Die Einberufung käme jetzt gerade richtig. Mit dem Dienst auf einem Zerstörer ließen sich Maiks Tonstudio-Pläne erst torpedieren, dann versenken. Ich werde das in die Hand nehmen.
Kaum sind am nächsten Morgen alle aus dem Haus, suche ich nach der Nummer des Kreiswehrersatzamtes. Am Apparat Oberfeldwebel Anja Klein. Ich trage mein Begehr vor, und sie verspricht nachzuschauen. Wann einer zur Musterung bestellt wird, richte sich nicht strikt nach dem Geburtsdatum, erklärt mir Frau Feldwebel. Aber nach welchen Kriterien es geht, erzählt sie mir nicht. Es ist mir auch nicht so wichtig, wenn sie denn nur ordentlich nachschaut. Die Bundeswehr war mal eine harte Organisation mit einem klaren Auftrag, jetzt klingt es am Telefon nach einer coolen Firma auf der Suche nach jungen Menschen, die fit und fähig sind. Wie gefährlich es in der Truppe werden kann, hört man am Telefon nicht. Drei Tage später liegt der Musterungsbescheid im Postkasten, der den Wehrpflichtigen Maik F. auffordert, sich am 15.09.2009 um 11 Uhr im Kreiswehrersatzamt Köln, Brühler Straße 309, einzufinden. Gezeichnet: Die Leiterin. Hier finde ich bestimmt eine Ganztagsbetreuung für meinen Maik.
Auch nach der 1. Klasse war die Grundschule eine unberechenbare Teilzeitveranstaltung mit wechselndem Personal. Aber zur 3. Klasse wechselte die Lehrerin turnusmäßig und der Ton wechselte gleich mit: Er wurde schärfer. Auf dem ersten Elternabend nach den großen Ferien war die weiterführende Schule bereits Thema. Die neue Klassenlehrerin erklärte uns, was das Gymnasium erwartete. Das war der Tag, an dem die Verantwortung für schulische Defizite ins Elternhaus rückübertragen wurde. Zum Halbjahr gab es auch erstmalig richtige Zeugnisse, so genannte kommentierte Notenzeugnisse. Jede Note wurde begründet, und dass sich Frau Obel dabei vorgegebener Satzbausteine bediente, machte die Sache einfacher, denn mittlerweile hatten wir auch Deutungshilfen zu Hause. Und vorsichtshalber halfen wir nun noch systematischer nach, mit Büchern und Spiele-CDs von Peter Lustig oder Willi Werkel, die in Wirklichkeit Lehrmittel waren. Ein Jahr später, in Klasse 4 kurz vor dem Martinsumzug, bekamen wir ein Protokoll von Frau Obel über die Beratung zum Übergang in die weiterführende Schule geschickt. Sie schrieb darin ihre Einschätzung auf und kam zu dem Schluss: Realschule! Umgehend vereinbarten wir einen Termin.
»Ne, ey, da geh ich nich hin!«, Maiks Reaktion auf den Musterungsbefehl erinnert mich an meine auf den Brief von Frau Obel. Maik empört sich, hat er doch allen Ernstes gehofft, sie würden ihn übersehen. »Zur Musterung oder zur Bundeswehr überhaupt?«, frage ich. Maik erkennt, dass er sich von der Musterung nicht einfach abmelden kann. Er rennt zum Rechner, wahrscheinlich, um das Ereignis seiner Facebook-Gemeinde kundzutun. Na, das habe ich doch gut auf den Weg gebracht.
Frau Obel brachte uns damals auch auf den Weg. Sie erklärte uns alles noch mal sehr geduldig. Sie war eine erfahrene Lehrerin, die Pension hatte sie schon fest im Blick. Ich spürte, dass sie es gut meinte mit Maik, aber das wollte ich nicht hören. Sie wies darauf hin, dass unser Sohn ja nach der 10. Klasse aufs Gymnasium rüberwechseln könne. Das ist theoretisch möglich, tun aber heute wie damals nur wenige, weil es für Realschüler sehr schwer ist, in der Oberstufe mitzuhalten. Ich erinnerte mich an das Argument von Frau Mohrle, der Kindergartenleiterin: »... die anderen Jungs gehen auch nicht vorzeitig in die Schule.« Ich schaute Frau Obel ganz ernst an und sagte: »Na gut, wir gehen auf die Realschule, wenn alle Kinder, denen sie etwas Ähnliches aufgeschrieben haben, das auch tun.« Und Frau Obel schaute mich genauso ernst an und sagte: »Nein, das werden die anderen Eltern nicht tun. Genauso wenig wie Sie. Die Entscheidung ist Elternwille, meine Betrachtung nur eine Empfehlung.« Wir bedankten uns für das Gespräch und meldeten Maik auf dem Gymnasium an.
Ich hegte nun Misstrauen gegen alle niedlich klingenden Umschreibungen, die in Wahrheit knallharte Beurteilungen waren, und zügelte meinen persönlichen Ehrgeiz nicht mehr. Ich versuchte es nach alter Vätersitte: Zerreißen, neu! wenn Maik wieder mal was nur so dahin geschmiert hatte.
Gut anderthalb Jahrzehnte später wissen wir flächendeckend, was der spaßige Ansatz gebracht hat: Die Schüler schreiben kreativer, aber fehlerhafter. Sie sind noch unsicherer in der Anwendung der
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