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Muttersoehnchen

Muttersoehnchen

Titel: Muttersoehnchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Fink
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90er-Jahren gab es zwar keine Notenzeugnisse, dafür landauf, landab einfühlsame Lehrerinnen. Die Grundschule war das Gegenteil von autoritär. Sie kombinierte Montessori-Elemente mit
denen der Laborschule Bielefeld. Wie alle didaktischen Konzepte wurde auch der neue Kurs nicht von Lehrern an der Front bestimmt, sondern von Menschen, die längst nicht mehr im Schulbetrieb sind und es auch nicht lange waren. Sie verdienten ihr Geld in der Lehrerfortbildung oder an der Uni und setzten bei all ihren Theorien das schulpflichtige Kind voraus, egal wie alt es ist.
    So manche Grundschullehrerin hätte gern jüngere Kinder gehabt, statt sich mit großen Wuchtbrummen herumzuschlagen, die nachmittags Game Boy , Nintendo oder Playstation spielten und eine Diddlmaus anbeteten; Kinder, die keine Folge der japanischen Animéserie Sailor Moon , deren Held eine kreischende Heldin war, verpassten. Erstklässler, die Karten von den Pokémon sammelten, jene Taschenmonster mit Geheimkräften, um sie auf dem Schulhof meistbietend zu verkaufen. Und deren Eltern ihre Sonntage seit neuestem mit Sabine Christiansen verbrachten, die Telekom-Aktien kauften und überlegten, welcher Funfun-Firma der New Economy sie ihr Geld sonst noch anvertrauen könnten. Flotte Mamas und Papas, denen es gelungen war, ihre eigene Subkultur in Stretchfaser und ohne Krawatte in alle Geschäftsräume zu tragen, die jetzt jedes Jahr die Krankenkasse wechselten, weil es möglich geworden war, und ihren Kleinen die neue Süßbrause Bionade zu trinken gaben. Diese Eltern waren nur am eigenen Vorteil und am eigenen Kind interessiert, nicht an einer Gesamtbetrachtung. Diese Eltern sind wir.
    Unsere Kinder lernten also aus sich heraus, und die Schule holte sie dort ab, wo sie standen. Doch dafür brauchte sie Mutters Hilfe. Ungeniert und regelmäßig legten die Lehrerinnen den Hausaufgaben Zettel bei, auf denen stand, was zu erledigen oder zu besorgen ist, am besten von heute auf morgen: Sachkunde- und Werkmaterial, Kopierpapier, Stoff und Klebstoff, ab und zu auch was vom häuslichen Zuckerbäcker. Oder die Schule verfügte über meine Zeit. Als Begleiterin für einen Ausflug, als Abhol- und Bringservice und um nach dem Schwimmen den Mädchen die langen Haare zu föhnen. Das konnte ich umgekehrt auch: Ich erwartete, dass mich die Lehrerin nachmittags zum Gespräch empfing, und scheute mich nicht, auch abends noch nach 21 Uhr bei ihr anzurufen.
    Wenn Maik bescheinigt wurde, dass er immer seine Hausaufgaben gemacht hat, lag es daran, dass ich alles penibel kontrollierte.
Ich gab den Buchhalter, den das System nicht zu brauchen vorgab. Ich übte mich auch als Motivationslokomotive und Spaßgenerator. Schon morgens ging das los, wenn ich lustige Gesichter ins Wurstbrot schnitzte.
    Die Grundschullehrerinnen waren furchtbar nett, aber sie waren auch Weltmeisterinnen der Vereinnahmung. Und stets kämpfte ich mit schlechtem Gewissen, wenn ich nicht leisten konnte, was sie forderten. Dabei wäre ich schon froh gewesen, wenn die Schule mal volle Leistung gebracht hätte, wenn mal eine Woche lang alles nach Stundenplan gelaufen wäre. Viele Stunden fielen aus, und die Kinder wurden kommentarlos heimgeschickt. Die großen pädagogischen Konzepte wurden mit bescheidenen Bordmitteln umgesetzt, mit älteren Lehrerinnen, die entkräftet waren, und jüngeren, die zu Hause blieben, wenn die eigenen Kinder krank waren. Die verlässliche Grundschule, die verpflichtende Betreuung der Kinder bis 13 Uhr, wurde eingeführt, als unsere Kinder die Grundschule verließen und die offene Ganztagsschule lag noch in ganz weiter Ferne.

    Ich folge Rolf ins Schlafzimmer und denke noch mal an den verwirrten Törleß. Wie er erst schmächtig, mit eingezogenen Schultern mitläuft und sich im Laufe seines Reifeprozesses läutert, wie er eine eigene Haltung zu Macht und Moral, Ungerechtigkeiten und Ehrgeiz gewinnt, wie er sich festigt. Fernab von seiner Mutter. Eine Umgebung unter Jungs erscheint mir plötzlich reizvoll, der Vorzug der Koedukation zweifelhaft. Fürs Internat aber ist es ohnehin zu spät. Und die Schlagzeilen zu sexuellem Missbrauch halten mein Bedauern in Grenzen.
    Aber was ist mit der Bundeswehr? Den Wehrdienst gibt es doch noch. Warum hat Maik bislang keinen Musterungsbescheid? Die Jungs sind in der Bundeswehr zwar auch nicht mehr unter sich, aber immer noch in der Mehrheit. Seit 2001 stehen den Frauen alle militärischen Laufbahnen in den Streitkräften offen, vorher durften sie nur in

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