Muttersoehnchen
kippen zu lassen. Ich kann nur schlecht runterkommen, den Haushalt loslassen und ausstehende Mails auf morgen vertagen. Ich habe ein Seminar vor der Brust, und da soll alles klappen.
Was meinen Mann innerlich bewegt, weiß ich nicht genau. Mit dem zweiten Glas Wein wird es etwas besser. So viel besser, dass er es wagt, sich nach der Schule zu erkundigen. Damit meint er die Belange beider Kinder, theoretisch. Praktisch wartet er gespannt auf meine Wasserstandsmeldung zu Maiks Fortkommen, denn nur da ist Gefahr im Verzug. Lysa erweist sich als Selbstläufer, was dazu führt, dass sie weniger Aufmerksamkeit bekommt. Und weil uns das mal
aufgefallen war und wir es ungerecht fanden, beginnen wir das Gespräch jetzt stets über unsere Tochter.
In der 12. Klasse profitiert Lysa von ihrem einjährigen Englandaufenthalt. Auf dem College in Brighton lernten nur drei deutsche Mädchen, niemand sonst aus Europa. Und meine Tochter hat an dem Mathekurs teilgenommen, der eigens für asiatische Austauschschüler eingerichtet worden war.
Lysa schnupperte ein bisschen von der Luft östlicher Bildungsansätze: Üben, üben, üben. Wer es dann gut kann, übt weiter, bis er es exzellent kann. Und dann übt er weiter, bis er den Spaß an der Sache findet. Während wir jede Strenge für Quälerei und jeden Druck für Drill halten, gibt es für asiatische Eltern keine Wünsche und Vorlieben ihrer Kinder und kein Lernen, das die Persönlichkeit rundet, sondern eines, das den Nutzen maximiert: Bildung soll sich auszahlen.
So entstünden keine Freigeister und keine Kreativen, sondern nur Duckmäuser ohne Selbstwertgefühl, empört sich Rolf des Öfteren, und besonders dann, wenn ihm statuspanische Eltern in der Beratungsstelle das bigotte Lied zusätzlicher Förderangebote singen, die natürlich allesamt Spaß machen und nur ganz nebenbei das Potenzial im Kinde wecken sollen. Im Grunde wollen sie die Erfolge der Chinesen, aber sie trauen sich nicht, es offen auszusprechen. Noch nicht.
Kein chinesischer Staatsbürger habe jemals einen Nobelpreis in einer Naturwissenschaft gewonnen, führt Rolf zum Beweis an, dass dieser Ansatz der Holzweg sei. Die westliche Pädagogik setze das Potenzial frei, in dem sie ermutige und inspiriere. In den Nachrichten hören wir einige Monate später, dass China im Land Huckleberry Finns Boeing-Jets kauft und Anteile an General Motors. Ganz ohne Inspiration.
Wieder zurück von der Insel hat Lysa die ersten Klausuren in ihrer alten Schule bravourös gemeistert, ganz besonders in Mathe. Maiks Leistungsstand kann ich nur ungenau vermelden. Ich weiß nicht, was er tatsächlich für die Schule tut und ob er überhaupt regelmäßig hingeht. Ich vermute nein, hoffe aber ja. Er lernt zu wenig, doch das war eigentlich schon immer so.
Auf den Tag seiner Einschulung hatten wir uns alle gefreut. Er begann mit einem ökumenischen Gottesdienst in der katholischen Kirche, es folgte die Eröffnungsfeier in der Aula. Die älteren Schüler boten ein Programm dar, das nicht wirklich bühnenreif war, was die Rektorin mit den großen Ferien entschuldigte. Einzeln wurden die Kinder nach vorn gerufen und bekamen einen Luftballon in der Farbe ihrer Klasse.
Unser Sohn war groß für sein Alter. Ein kräftiger Junge, der schwimmen konnte und Rad fahren und Schleife binden. Mit dem Arm über den Kopf ans Ohr fassen konnte er schon und auch das Rückwärtslaufen klappte prima. Darauf kam es bei der amtsärztlichen Untersuchung an. Als er sie dann endlich im Arm hielt, wirkte die Schultüte bei Maik filigran. Zum Glück trug er sie ehrfurchtsvoll wie eine Reliquie, sonst hätte es sehr komisch ausgesehen.
Es wurde allerhöchste Zeit für die Schule. In den 90ern war das Einschulungsalter stetig angestiegen, am Ende des Jahrhunderts lag es bei 6,9 Jahren, Maik damit genau im Durchschnitt. Jungen wurden deutlich seltener vorgezogen, aber viermal so häufig zurückgestellt wie Mädchen.
Wir Clubmitglieder der Lifestyleelite schickten unseren Nachwuchs spät, aber mit großem Trommelwirbel in die Schule. Der Jubeltag wurde aufwändig inszeniert mit viel Besuch und großen Geschenken, die längst keinen Platz mehr in der Schultüte fanden. Wir feierten den Einstieg, als sei es bereits der erfolgreich geglückte Ausstieg, ein erweiterter Kindergeburtstag im Stil einer Abschlussfeier. Und eigentlich inszenierten wir dabei nur unseren eigenen Status und unseren Traum vom familiären Glück, das sich an diesem Tag in ungezügeltem Stolz
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