Muttersoehnchen
deutschen Sprache als die Generation vor ihnen, als ich.
Die Umkehr zur früheren Einschulung sowie der offenere Umgang mit dem Leistungsanspruch erfolgte per Gesetz, also mit einem gepflegten unkuscheligen Top Down, panisch ausgelöst durch die internationalen Vergleichsstudien und nicht etwa etabliert nach ausgeruhten Praxistests. Dabei sind alle Methoden immer nur so gut, wie der Lehrer, der sie vor der Klasse vertritt. Sie sind ausschließlich abhängig von der Person. Nichts könnte zufälliger sein.
Überdies brachte die erste IGLU-Studie 2001 zum Vorschein, was selbst ich meinen Geschlechtsgenossinnen an der Front nicht zugetraut hätte: Jungen werden bei gleicher Leistung schlechter benotet. Es wird ihnen unterstellt, weniger phantasievoll und sprachgewandt zu sein. Ausländische Jungs fallen am stärksten durchs Raster, am besten sind demnach Mädchen mit deutschem Hintergrund zu beschulen. Der raumgreifende und laute Junge ist in der Betrachtung kein richtiger Junge mehr, sondern ein unangenehmer kleiner Macho. Das Land, wo die wilden Kerle wohnen, gibt es nicht mehr. Dem kleinen Kerl selbst ist es eigentlich ziemlich egal, ob ein Mann oder eine Frau ihn unterrichtet, wenn er nur so bleiben dürfte, wie er ist. Den Wunsch teilt er mit seinem Vater.
Am Morgen der Musterung ermahne ich Maik, sich Mühe zu geben. »Wozu?«, fragt er. »Damit du gut bist«, antworte ich. »Wozu?«, fragt er noch mal, aber ich drehe mich schon zum Auto um und tue so, als hätte ich das nicht mehr gehört.
Die Musterung hat mit dem, was ich von den Erzählungen meines Bruders und aus dem Musicalfilm Hair kenne, nichts mehr zu tun. Heute geht es um Ausmusterung, Verweigerung und ein paar Versprengte, die unbedingt hinwollen. Die jungen Männer werden direkt gefragt, ob Wehr- oder Zivildienst für sie infrage kommt. Die Verweigerer biegen zur linken Tür ab und durchlaufen nicht mehr die ganze Untersuchung; so geht die Verweigerung am schnellsten. Die anderen gehen rechts und machen auch noch den psychologischen Test. Und ganz viele werden gleich ausgemustert, weil sie zu dick sind, Allergien, Plattfüße oder Haltungsschäden haben.
Die Grundschule hielt mit den Tauglichkeitsstufen ihrer Zöglinge lange hinter dem Berg. Sie hat den Wettbewerb geleugnet und sich der Verantwortung einer Bewertung entzogen. Überdies gab es für sie keine Jungen und Mädchen, sondern nur Kinder und Mädchen. Das statistische Bundesamt unterteilt die Geschlechter der Schüler auch schon in insgesamt und weiblich. Der weibliche Blick war plötzlich immer richtig und einen männlichen gab es nicht mehr: nicht von den männlichen Reformpädagogen, nicht von den wenigen männlichen Grundschuldirektoren und auch nicht von den Vätern daheim. Sie alle gaben den Frauen freie Bahn. Mit einer vorzeitigen Einschulung wäre Maik unter diesen Umständen gnadenlos gescheitert.
Jetzt nimmt er die Wehrdiensttür. Er erzählt der Ärztin, dass er zur Marine möchte. Da gibt es die schönsten Uniformen. Von der Möglichkeit der Schnellverweigerung ahnten weder Maik noch ich etwas, und ob das mit dem Marine-Satz so stimmt, weiß ich nicht. Ich bin nicht dabei, obwohl ich es gern gewesen wäre. Ich habe tatsächlich darüber nachgedacht, ihn zu begleiten. Rolf hat mir einen Vogel gezeigt, seine Sprache wird mit den Jahren immer deutlicher. Letztlich hielt mich ein beruflicher Termin zurück, und Sohnemann musste allein in die Brühler Strasse finden. Er wird T2 gemustert. Als Maik mit dem Ergebnis heimkommt, schwingt Stolz mit: Er weiß, dass er immer noch leicht verweigern kann, aber jetzt weiß er auch, dass er tauglich ist.
1995: DEUTSCHLAND UND DIE WELT
PFLEGE
In Deutschland wird die Pflegeversicherung eingeführt.
BANKROTT
Die britische Investmentbank Barings geht Bankrott, nachdem ihr Wertpapierhändler Nick Leeson in Singapur mit Derivaten 1,4 Milliarden Dollar verspekuliert hat.
EUROPA
Mit dem Schengener Abkommen verzichten die europäischen Mitgliedsstaaten auf Grenzkontrollen an den Binnengrenzen.
TERROR
In Oklahoma-City zerstören amerikanische Rechtsextremisten mit einer Autobombe ein Hochhaus, 168 Menschen sterben.
NAHOST
Der Friedensprozess im Nahen Osten erleidet Rückschläge: Ein palästinensisches Selbstmordkommando verübt nördlich von Tel Aviv ein Bombenattentat auf einen Busbahnhof, ein jüdischer Fundamentalist erschießt den israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin.
WELTRAUM
Im Rahmen eines ersten gemeinsamen
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