Muttersoehnchen

günstige Umstände gelang, in gute Positionen zu kommen.
    Die Nutznießer sahen in der reformierten Oberstufe auf einmal eine falsch-gute Idee, weil das Grundwissen im Lesen, Schreiben und Rechnen sank, während nur das Niveau im Spezialwissen um seltene Enzyme, kaum bekannte Literatur und abseitige mathematische Beweise stieg. Die Abiturienten wussten viel, aber ihr Wissen hatte keine Relevanz. So sammelten die Pioniere Freiheit um Freiheit wieder ein. Und sie haben vor, es wieder zu etwas hinzuführen, das man irgendwann wieder Allgemeine Hochschulreife würde nennen können. »Mein lieber Sohn«, beende ich den abgeschlossenen Kurzroman, »diese Vorschriften retten dich gerade.«
    Ich schätzte den ersten richtigen Meilenstein in Sachen Transparenz sehr, auch wenn er noch Mängel hatte und zu neuen Problemen führte: die Einführung des Zentralabiturs. Das gibt es bei
uns in Nordrhein-Westfalen seit 2007. Die Aufgaben werden zentral gestellt und dezentral ausgewertet. Dabei korrigiert der Lehrer die Arbeiten seiner Kursschüler nach einem vorgeschriebenen Kriterienkatalog, und überdies gibt es einen Zweitkorrektor, der die bewertete Arbeit des Erstkorrektors prüft. Das ist entweder ein Lehrer von einer fremden Schule oder ein Kollege an der eigenen.
    Ich erkenne die Bemühungen um objektivierbare Notenurteile an, frage mich aber, ab wann ein Lehrer die Korrekturen eines Kollegen ernsthaft anzweifeln würde. Warum bewerten nicht zwei Lehrer dieselbe Klausur, ohne dass der eine von den Korrekturen des anderen weiß? Es ist, als würde ein Arzt die Diagnose eines Kollegen überprüfen und nicht den Patienten noch einmal untersuchen. Ich ahne dunkel, was dabei nicht herauskommt, beschließe aber, alles besser zu finden, als das niemals nach außen sichtbare Wirken eines Fachpädagogen mit Endlosvertrag. Schließlich ist es viel mehr, als es je gab.
    Die angestrebte Transparenz wird mit selbst organisiertem Lernen garniert, einem neuen systemischen Ansatz, bei dem ausgefeilte Arbeitsblätter wichtiger sind, als die Person, die sie verteilt. Anstatt des schnöden Frontalunterrichts nähert sich ein Kurs den Lösungen im abgesicherten Gruppenpuzzle an oder als Lerntempoduett. Der Lehrer wird vom Wissensvermittler mit Vorsprung zum Teamführer einer kooperativen Lernkultur. So was denken sich die Lehrer der Lehrer aus, die von der Landesakademie für LehrerInnen-Fortbildung und Personalentwicklung, und treiben den qualifizierten Schullehrer in den abgesicherten Wahnsinn. Und richtig neu ist es auch nicht, wir haben früher auch schon gequatscht, bis es klingelt.

    Maik begriff, dass die Anstrengungen um das beste Verfahren und gerechte Bewertungen die Benotung in kleinste Einheiten zerlegte, und er sah, dass es zur Inflation der Einsen und Zweien führte. Aber es gelang ihm nicht, beim Sammeln und Punkten mitzumischen.
    Die mündliche Beteiligung und Referate zählen ebenso wie die schriftlichen Klausuren, auch soziales Engagement innerhalb und außerhalb der Schule prägt die Noten mit. Das ist gut für Sammlernaturen, die gern vorbeugen und nicht alles auf eine Karte setzen
wollen. Es ist auch gut für umtriebig-gesprächige Kandidaten mit großem Wortspeicher, der jeden Tag geleert werden muss. Und es ist sehr gut für Charaktere, die um die Sympathie von Autoritätspersonen buhlen. Kurz: Das Bewertungsprinzip ist nahezu perfekt für das moderne Rotkäppchen.
    Soziales Engagement ist immer ehrenwert und wird immer beliebter, denn es zeigt das Mädchen hinter der Schülerin. Die kleinen Lehrgänge im Sanitätsdienst oder in der Streitschlichtung, derer sich die Biologielehrerin auf halber Stelle angenommen hat, eignen sich hervorragend zur Profilierung, zumal sie im Abschlusszeugnis nicht unerwähnt bleiben. Das moderne Rotkäppchen hüpft fröhlich über den ausgeschilderten Sicherheitsparcours, der Korb für die schmackhaften Beeren, die es am Wegesrand pflücken will, wippt in seiner Hand. Rotkäppchen hat allen Grund, fröhlich zu sein, denn am Ende wartet nicht der böse Wolf, sondern tatsächlich die kranke Großmutter im Bett. Die ist zu schwach, um aufzustehen, und ihre Augen sind schlecht geworden. Sie erkennt nicht mehr alles, freut sich aber über jeden Besucher, der ihr wenigstens etwas mitbringt, Engagement ist zur Leistung an sich geworden. Was für Mädchen gut ist, kann für Jungs nicht schlecht sein. Doch Maik steckte in seiner Schublade fest.

    »Und?« fragt Maik, als er nach Hause kommt, und ich