Muttersoehnchen
Sprechstunde. Mit viel Bitte-Bitte habe ich meinen Job-Termin auf einen Tag zwischen den Jahren verlegt und treffe Frau Schmidt-Hahn zu ihren Bedingungen im Rote-Kreuz-Zimmer, einem kleinen Raum von 7 qm mit einer Pritsche, an deren Fußende eine zusammengelegte Decke liegt. Das erinnert mich an meine Zeltlager-Aufenthalte mit der katholischen Jugend. An der Wand hängt ein Erste-Hilfe-Kasten, der kleiner ist als unserer daheim. Vor dem Fenster steht ein kleiner runder Tisch mit zwei Stühlen. Alternativ stehe noch die Asservatenkammer zur Verfügung, falls der Sanitätsraum besetzt sei, hatte mich die Lehrerin wissen lassen, damit ich sie im Zweifel dort hätte suchen können.
In dieser Schule mit über tausend Schülern gibt es kein Besprechungszimmer, in das sich Lehrer mit Eltern oder Schülern zurückziehen könnten. 1971, als diese Schule gebaut wurde, gab es dafür offenbar noch keinen Bedarf, da war die Welt noch in Ordnung.
Frau Schmidt-Hahn erscheint fast pünktlich, sie war nur noch kurz im Lehrerzimmer und hat sich einen Kaffee geholt. Sie umklammert die Tasse mit beiden Händen, als wärme sie sich daran auf. Auf der Tasse steht ›Schuhle ist doov‹. Das sei ein Geschenk der 7. Klasse zu Weihnachten, erklärt sie mir lächelnd und fragt, ohne ihr Lächeln auszusetzen: »Was kann ich für Sie tun?« Da brauche ich nicht lange zu überlegen: »Gern einen Kaffee!«
Frau Schmidt-Hahn schaut auf die Uhr, und ich habe verstanden. Ich fasse lieber nicht nach, sondern zusammen: »Ähem ... ja, die letzte Klassenarbeit, ich mein’ ich verstehe ja nichts davon, aber Maik meint ... könnte es vielleicht sein, dass da an ein paar Stellen ein Missverständnis ...« In meiner Wortwahl bin ich so vorsichtig, als gelte es über hundert rohe Eier zu laufen. Ich komme als Bittsteller, denn ich habe dazugelernt. Frau Lehrerin unterbricht mich, lächelt immer weiter und gibt mir einen Abriss über die Lerninhalte des Halbjahres. Dann weist sie mich kurz in ihre seit Jahren bewährten Lehrmethoden ein. Währenddessen schaut sie immer wieder in ihre Unterlagen und mit Beendigung des letzten Satzes wieder hoch, wahrscheinlich um zu schauen, ob ich noch da bin.
Sie ist für eine Lehrerin überdurchschnittlich gut angezogen, ihre Garderobe ist teuer, das erkenne ich schnell. Sie trägt ein modisches Strickleid und Schuhe mit Absatz, was ich bei einer Lehrerin zum ersten Mal wahrnehme. Deshalb beschließe ich, sie nett und kompetent zu finden und ihr Metall in der Stimme zu ignorieren. Ich nicke, als verstünde ich alles, und lächele nun auch dauerhaft. In einer winzigen Sprechpause schiebe ich das Bestechungsgeschenk über den Tisch: eine Produktion der The Sixth Records, Maiks jüngste Aufnahmen. Ich verpacke sie in warme Worte und schwärme, wie engagiert und leidenschaftlich unser Sohn bei der Sache ist, wie löblich ich das finde und mein Mann auch. Musik verbindet die Welt.
Ich ahne ja nicht, welch wunderbares Stichwort ich da geliefert habe. Frau Schmidt-Hahn ist nun wirklich bei der Sache: Sie war
ja als junger Mensch ein Jahr in Afrika, und da habe sie die Musik über ihr Heimweh hinweggetragen, schwärmt sie. Sie kommt richtig in Fahrt. Sie finde es ja so wichtig, dass junge Menschen fremde Kulturen kennenlernen, auch damit sie unsere zu schätzen lernen. Sie selbst betreue die Dritte Welt AG und stehe im engen Kontakt mit dem Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, das ein Weltwärts-Programm ins Leben gerufen hat. Da könne man ein freiwilliges soziales Jahr im Ausland machen oder in irgendeinem Land den Zivildienst ableisten. Nun werde ich wach. Ausland? Zivildienst? Weit und lange weg? Ich notiere mir die Webadresse und den Namen der Ansprechpartnerin aus dem Ministerium. Das ist doch mal ein aufschlussreiches Gespräch. Maiks nächste Arbeit wird bestimmt besser.
»Es sind nur noch wenige Meter bis zum Abitur, also durchhalten!«, rufe ich mich selbst zur Ordnung und erinnere mich an die Anfänge: Das freiwillige Angebot der Oberstufe beinhaltete ein unübersichtliches Menü an Fächern, die ein Schüler wählen konnte oder wählen musste. Ohne Mathematik, Deutsch und Sport führte kein Weg mehr zur Allgemeinen Hochschulreife; es ist kaum noch vorstellbar, dass es einmal möglich gewesen war. Auch sonst hatte sich im Kurssystem einiges getan. Es war in der unterschiedlichen Gewichtung der abiturrelevanten Fächer derart komplex geworden, dass es selbst nicht alle Lehrer auf Anhieb verstanden. Uns
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