Muttersoehnchen
mitten in Deutschland zwölf Lehrer, zwei ehemalige Mitschüler, eine Sekretärin, einen Polizisten und sich selbst.
Die Diskussion wurde in der Öffentlichkeit wie stets angst- und interessengesteuert geführt. Lehrer und Eltern kannten die Spiele in Wirklichkeit nicht, was ihre diffuse Sorge um deren Schädlichkeit nur vergrößerte und eine ganze Weile von den üblichen Problemfeldern rund um den Rechner ablenkte: zu wenig Bewegung, zu wenig frische Luft und zu wenige Echtmenschen. Und dass man ständig die altersgerechten Fernsehsendungen verpasst, wo sich ARD und ZDF doch erst kürzlich soviel Mühe gegeben haben, den Kinderkanal einzurichten.
Wie sehr sich die Grafiken der Kampfsimulationen in den Köpfen einprägen, begriff ich, als Maik die Bilder von der Nachtsichtkamera aus dem Irakkrieg in der Tagesschau sah. Er hielt sie für eine schlechte Spielversion.
Maßnahmen wurden ergriffen, eine Lösung gab es nicht. Der Spielehersteller Blizzard Entertainment reagierte geschickt und bietet seither eine integrierte Elternuhr an, um die Spielzeit zu regulieren. So wird die Zeit protokolliert, die das Kind am Monitor verbringt, und es können Zeitsperren aktiviert werden, beispielsweise
nicht länger als drei Stunden oder nicht mehr abends nach neun.
Das Suchtpotential der Spiele ist unumstritten und dürfte kaum jemanden verwundern. Die Spiele haben für heranwachsende Männer viele unwiderstehliche Eigenschaften: Sie bieten Kampf und Wettkampf, Siege und Niederlagen, sie fordern und fördern strategisches Denken, schnelle Reaktionen, und sie folgen klaren, fairen Regeln. Warum lernt die Industrie immer von der Pädagogik und warum nie umgekehrt die Pädagogik von der Industrie? Die Pädagogen schaffen es doch, Fehler in Lernchancen umzubenennen. Bitte sehr, hier ist eine.
Für die bürgerlichen Elternhäuser bedeutete der Amoklauf von Erfurt, dass nun Schluss war mit der arglosen Konsumfreude für den Nachwuchs. Einer von Deutschlands besten Counter Strikern wohnte in unserem Dorf. Tobby ist der Sohn eines Lehrers, der sich an unserem Gymnasium schon oft als Streitschlichter verdient gemacht hatte. Als der Junior schon im Studium war, viele Jahre nach Erfurt und ein Jahr nach Winnenden, wo etwas vergleichbar Schreckliches passierte, wurde er gebeten, in der Schule eine Präsentation zu machen. Er saß auf der Bühne, und was er spielte, sahen wir über den Beamer auf einer großen Leinwand.
Die schnellen Aktionen machten mich ganz schwindelig. Dann durfte ein Vater sich mal versuchen, nach 30 Sekunden war er tot, erschossen von Tobby, dem erfahrenen Kämpfer. Ein anderer Vater rief: »Jetzt verstehe ich, warum so viele den Wehrdienst verweigern. Sie können das Schießen einfach nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren.« Das gab ein paar Lacher.
Eine Mutter meldete sich und sagte, es gäbe doch auch so schöne neue Spiele, da würden die Bewegungen des Spielers in die Bewegung der Spielfiguren umgesetzt. Man könne da surfen und rennen, Fußball oder Golf spielen. Das sollte man mal fördern und das andere einfach verbieten. Sie meinte die Spielkonsole Wii , und mit ihrem Einwand zeigte sie, wie eindimensional die Betrachtung der Ängstlichen in der komplexen Faszination sein kann. Counter Strike gegen Wii auszutauschen, bedeutet, Cowboy und Indianer durch Gummitwist zu ersetzen. Wii könnte man aber gut in der
Pausenhalle aufbauen, alternativ zum fehlenden Sportunterricht bis es jemandem gelingt, die Sportlehrerin davon zu überzeugen, sich den Krankenschein mal für länger und nicht immer wieder ausstellen zu lassen, damit die Schule nach Ersatz suchen darf. Aber bevor ich das vorschlagen konnte, meldete sich Tobby. Er bemerkte dazu, dass Geld ja den Charakter auch nicht verderbe, sondern ihn nur zeige. Und irgendwie war das der schlauste Satz an diesem Abend. Dann gingen wir nach Hause mit der Erkenntnis, dass die Welt immer was Gutes und was Böses bereithält.
Auch an dem Tag nach Frankfurt ist das so. Never complain, never explain: Familie. Maik darf auf der gesamten Strecke unser Auto steuern, und so schließt er wie erwartet Frieden mit der Entourage. Nur Lisa krawallt, weil sie sich eigentlich mit Patrick treffen wollte. Es kommt kaum noch vor, dass wir alle zusammen irgendwohin fahren, und dieses eine Mal scheint auch schon zu viel zu sein. Warum mein Mann unbedingt die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung bei uns an der Tankstelle kaufen musste, obwohl er im Auto noch nie gern gelesen
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