Muttersoehnchen
Weil es so heiß ist draußen, geht das wenigstens leicht. Die Hüllen der Pokémonkarten sind von der Dachbodenhitze zusammengeschmolzen und liegen vereinzelt zwischen den Tieren des Playmobil-Bauernhofs. Die Pokémon überrollten Ende der 90er unser geordnetes Lifestyleleben. Das neue Softwarefutter für die Spielekonsole von Nintendo lehrte uns fröhlichen Bildungseltern das Fürchten.
Wir kannten ja schon Super Mario, gemacht für den Nintendo, den wir alle liebten. Die Entwickler der Hauptfigur hatten nur 16 mal 16 Pixel zur Verfügung. Da musste der Superheld grob geschnitzt werden und auf dem Kopf eine Mütze tragen, weil man Haare nicht scharf darstellen konnte. Und der Schnauzbart ersetzte den Mund. Doch mit dem fröhlichen Klempner in der roten Latzhose und seinem nicht minder vergnügten Drachenfreund Joshi, die ganz simpel eine Prinzessin zu befreien versuchten, hatten die kleinen Taschenmonster nichts gemein. Der neue Angriff aus der Animéwelt war gleich ein ganzes Geschwader, und dass er zeitgleich auf drei Wegen kam, war für uns neu: als Kartenspiel, als Konsolenspiel und als Fernsehserie.
Die Pokémon waren von aggressiver, hybrid asiatisch-europäischer Anmutung und in der Trickzeichnung ein Rückschritt. Das
bewährte übertriebene Kindchenschema war simpel illustriert und ganz platt zweidimensional, wo doch schon längst der computeranimierte Kinofilm Toy Story 1 mit seiner plastischen Darstellung einen beeindruckenden Standard gesetzt hatte. Unsere Eltern hatten an der Anmutung von Donald Duck und seiner Verwandtschaft auch jede Menge auszusetzen gehabt. Die Enten waren ihnen zu plakativ, zu amerikanisch. Mehr aber noch richtete sich ihre Ablehnung gegen den Inhalt. Die Figuren seien zu intrigant, zu kapitalistisch, auch wieder zu amerikanisch. Eben nichts für Kinder. Nur im Unterschied zu uns verstanden sie wenigstens, worum es ging.
Was damals ein Comic war, hieß nun Manga, was soviel bedeutet wie zwangloses, ungezügeltes Bild. Und als ich noch dachte, Donald in 3D sei die Zukunft, lösten weit aufgerissene Münder und übergroße Kulleraugen unter dunklem Schopf einen neuen Hype aus. Das wirkte fremd auf mich, und ich kapierte nichts. Während es Mario und Joshi reichte, von Level zu Level Unholden auszuweichen, über Löcher und Kisten zu springen, begriff ich hier das Prinzip erst gar nicht, weder auf der Konsole noch als Kartenspiel. Ich verstand bloß, dass es um Monster ging, die vom Spieler gefangen, gesammelt und trainiert werden konnten. Aber welchen Pokémon Maik wohin trainierte, damit er einen Gegner aus dem Team Rocket zu schlagen imstande war und welchen Pokémon er zum gleichen Zweck sammeln musste, habe ich nie durchschaut.
Ich verstand die geheimen Regeln nicht, nicht den Mythos, der meinen Kleinen so faszinierte. Ihn erfreute das. Später las ich mal, dass die Begriffsstutzigkeit der Erwachsenen beabsichtigter Teil der Marketingstrategie war. Die Kinder konnten sich dadurch abgrenzen und fühlten sich schlauer als ihre Eltern. Das wiederum leuchtete mir ein. Die Geheimsprachen, die wir uns früher ausdachten, ließen uns auch überlegen erscheinen. Ich beobachte Maik, wie er akribisch und sorgsam Karten in kleine Hüllen steckte, was mir gut gefiel, solange ich die Hoffnung hegte, dass er dieses Ordnungsprinzip auch auf seine Hausaufgaben übertrug.
Die Spielzeugindustrie setzte konsequent um, was Pädagogen schon lange wissen, aber in ihren eigenen Bereichen nicht konsequent
umsetzen: Jungen und Mädchen spielen geschlechtsspezifisch. Figuren wie das niedliche Monster-Maskottchen Pikachu oder das süsse Togepi sprechen die Mädchen an, und solche wie das alles zerstörende Glurak die Jungen. Mädchen wollen sie sammeln, Jungen wollen, dass sie kämpfen. Beides geht mit allen. So konnten die Jungs Kartenduelle gegen Freunde ausfechten oder die Monster virtuell auf dem Nintendo gegeneinander antreten lassen. Die Karten wurden wie die Diddl-Bildchen untereinander getauscht, oft sogar verkauft. In der großen Pause herrschte reger Handel.
Letztlich sind die Pokémon nichts anderes als ein altes Rollenspiel mit den neuen Möglichkeiten der Technik: ein Strategie-Kriegsspiel für die Kleineren. Ob nun ein böser König seine Widersacher guillotiniert oder ein Taschenmonster Blitze aussenden kann, spielt erstmal keine Rolle. Die Sorgloseren unter den Eltern erinnerten daran, dass Grimms Märchen deutlich grausamer waren.
Die Spielewelten, die uns in Sorge versetzten,
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