Muttersohn
war immer die Schlussformel ihrer Liturgie. Der Professor hatte sie Percy erklärt: Tu autem domine, miserere nobis. Jedes Mal, wenn der Professor mit dieser Formel aus dem kirchlichen Stundengebet ihre Unterhaltung beendete, sah Percy im Professor den Abt, dem er dann theatralisch den Ring küsste, den dunkelgrünen goldgefassten Stein. Er küsste ihn nicht wirklich, sondern theatralisch. Und beide lachten. Der Professor natürlich weniger als Percy. Sie imitierten ein Lachen. Aber die Imitation riss sie dann doch beide hin.
Als Percy schon an der Tür war, rief der Professor noch: Nicht dass du’s nötig hättest, aber wenn du Lust hast, dir die Haare schneiden zu lassen, Massimo ist noch zwei Wochen bei mir und legt im Wintergarten neue Fliesen. Als ich erwähnte, dass du wieder im Gelände bist, hat er gesagt, du seist überhaupt sein Lieblingskunde beim Haarschneiden. Und ich frag’ natürlich, warum, und er: Keiner von denen, denen er die Haare schneide, könne ihm so glaubhaft sagen wie du, dass es nichts Angenehmeres gebe, als von ihm die Haare geschnitten zu bekommen.
Das stimmt, sagte Percy.
Dann komm bald mal abends, sagte der Professor.
In seinem Zimmer studierte Percy die Akte Ewald Kainz. Die Abhörprotokolle überblätterte er. Er würde sie morgen Augustin zurückbringen. Die Krankengeschichte überflog er. Ewald Kainz, geboren am 1. 1. 1947, dringt nachts im Ärztehaus in der Maurus-Betz-Straße in die Praxisräume der Psychotherapeutin Dr. Silvia Schall ein. Er hat die Schlüssel zu diesen Räumen. Er trinkt eine Flasche französischen Kognaks, überschüttet sich mit Benzin, legt sich auf die mit grünem Leder überzogene Couch, zündet sich an, verbrennt aber nicht, weil die Sprinkleranlage das Feuer löscht. Die Staatsanwaltschaft verzichtet zunächst auf die Erhebung einer Anklage wegen menschengefährdender Brandstiftung. Kainz wird dem PLK Scherblingen überstellt, Abteilung Forensische Psychiatrie.
2.
Am nächsten Tag klopfte Percy wieder, öffnete wieder, ohne dass Ewald Herein gesagt hätte, und sagte diesmal: Grüß Gott, Ewald.
Ewald lag auf dem Bett wie am Tag zuvor, aber er hatte heute die Schuhe an. Damit drückte er wohl aus, dass er mit Besuch gerechnet hatte.
Wenn Percy irgendwo eintrat, dachte er oft daran, wie leicht es sein Pfarrer Studer hat. Der sagt einfach, wenn er irgendwo eintritt: Gott segne meinen Eintritt.
Bevor Percy sich setzte, öffnete er das Fenster. Es war zwar erst Mai, aber schon heiß. Jetzt, bei geöffnetem Fenster, wirkten die Gitterstäbe vor dem Fenster sehr massiv.
Ewald stand auf und schloss das Fenster. Da der Tisch, an dem Percy saß, am Fenster stand, musste sich Ewald, um das Fenster zu schließen, dicht an Percy vorbeibeugen. Percy sah, dass Ewald ein Kettchen um den Hals trug. Was an dem Kettchen hing, sah er nicht. Aber dass die Brandnarbe am Hals hinab weiterging, sah er jetzt.
Dann lag Ewald wieder. Percy schwieg wieder ohne jeden Ausdruck der Geduld oder Ungeduld.
Er wusste nachher nicht, wie lange er diesmal bei Ewald gewesen war. Er hatte auf nichts gewartet. Er hatte gespürt, dass es genügte, an diesem Tisch ohne Tischdecke auf einem Stuhl zu sitzen und zu Ewald hin- überzuschauen. Ihm war das Bild eingefallen, zu dem der Professor ihn geführt hatte, als er das letzte Mal in Scherblingen gewesen war. In der Stiftskirche. Das erste der Bilder, die das Leben des heiligen Norbert erzählen. Von überall her, aus allen Städten und Ständen kommen die Menschen zu ihm, dem Ordensgründer. Aber einer sträubt sich. Den wollte ihm der Professor zeigen und dazu zitieren, wie die Legende diese Szene ausdrückt: Der sich mit Händen und Füßen sträubende Knabe. Bisher, sagte der Professor, habe noch niemand erklären können, was damit gemeint sei. Percy hatte, als sie die Kirche verlassen hatten, gesagt: Warum auch! Das genügt doch: Der sich mit Händen und Füßen sträubende Knabe. Der Professor war stehengeblieben und hatte gesagt: Du hast recht. Und Percy: Sag das nie mehr.
Aber warum es mich zu dem sich mit Händen und Füßen sträubenden Knaben zieht, habe ich dir noch nicht gesagt.
Sag’s mir, sagte Percy.
Ich sag’s dir, weil du alles wissen sollst, was mit mir zu tun hat, sagte der Professor. Mein Vorfahr, der Abt Eusebius, er war zweiunddreißig, als ihn die Compromissarii, die Wahlkommission des Konvents, das waren sieben von den neununddreißig Priestermönchen im Jahr 1774, als die Eusebius zum Abt
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