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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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geschmeichelt. Ich will auch teilnehmen an diesen Tanzstunden, ich verspüre ein Bedürfnis nach mehr als zweckdienlicher Bewegung.
    Der Professor rief: Medice, cura te ipsum.
    Und Percy: Medicus nihil aliud est quam animi consolatio.
    Bevor der Professor lateinisch weitermachen konnte, sagte Percy, jetzt müsse er doch noch etwas sagen, was er seinerseits für seine Pflicht halte. K VII drüben.
    Die
Burg
, sagte der Professor.
    Genau, sagte Percy. Als Pflegeschüler und auch als Pfleger habe er nie mit dem forensischen Trakt zu tun gehabt. Jetzt aber K VII , die Burg, eine elektronische Schleuse von Beton zu Beton, und durchleuchtet, schlimmer, als wenn du ins Flugzeug willst. Und wenn du endlich drinnen bist, noch ein rührendes Schlüsselchen. Augustin, das ist deiner nicht würdig.
    Dr. Bruderhofer, sagte der Professor. Der kam direkt aus Haar nach Scherblingen und hat das mitgebracht. Heißt Innovation.
    Und du machst das mit, sagte Percy.
    Und der Professor: Die Insassen der Burg haben Paragraph 63 oder sind kurz davor. Gemeingefährlich. Wenn einer hinauskommt und richtet was an …
    Er hörte auf. Percy sagte: Ewald Kainz muss da raus. Den Schlafsack kann ich dadrin nicht probieren.
    Sie schwiegen. Dann sagte der Professor: Tu autem.
    Die Schlussformel. Noch der gespielte Ringkuss, und Percy konnte gehen.

3.
    Am siebten Tag der Percy-Besuche lag Ewald wie am ersten ohne Schuhe auf dem Bett und zog auch, solange Percy da war, seine Schuhe nicht an. Das konnte heißen, dass er Percys tägliche Anwesenheit nicht mehr erlebte wie am ersten Tag. Er wusste, Percy würde kommen, seinetwegen würde er nicht mehr in die Schuhe schlüpfen. Percy konnte jetzt sprechen. Und als er anfing, wirkte das, als antworte er auf alles, was zwischen ihnen vorgegangen war. Nur dass du Bescheid weißt, sagte er. Was ich dir sage, habe ich von ihr. Dass ich es dir sage, ausgerechnet dir, das kann noch verständlich werden.
    Percy machte eine Pause. Ewald würde das nicht für eine Aufforderung halten, etwas zu sagen. So viel Verständnisnähe hatte sich gebildet zwischen ihnen. Dann sprach er plötzlich weiter. Seine Mutter heiße Josefine. Sei geboren in Gellnau. Das liegt zwischen Apflau und Leimnau. Im Argental. Gerade noch am Hang. Dass er Josefine auf der ersten Silbe betone, sei gegendgemäß. Ihm gegenüber hieß es immer: Ich bin deine Mutter Josefine. Damit hat sie darauf reagiert, dass sie, auch gegendgemäß, nur Fini genannt und gerufen wurde. Auch von ihm: Mutter Fini. Dass sie am 19. März geboren ist, versteht sich jetzt, auch gegendgemäß, von selbst. Das war im Jahr 1937. Er sei dann von ihr 1977 geboren worden. Spät im Jahr. Im Marienhospital. Fast hätte er gesagt: Natürlich im Marienhospital. Also in Stuttgart. Und sie hat ihm, dem Drei- oder Vierjährigen, vorgelesen, was sie an jeden Bundespräsidenten und an jeden anderen nach ihrer Meinung in Frage Kommenden geschrieben hat, dass nämlich die Familie Schlugen adelig gewesen sei und dass ihr endlich dieser Titel zurückgegeben werden müsse. Sie stellt umständlich dar, durch welche historischen Ereignisse und Nachlässigkeiten ihrer Familie der Adelstitel abhandenkam. Den Kampf um den Adelstitel habe Mutter Fini erst eröffnet, als er, Percy, geboren worden war. Ihm glaubte sie, den Titel schuldig zu sein. Da lebten sie in einer Zweizimmerwohnung in Stuttgart, in der Metzstraße. Er sei noch nicht drei gewesen, da habe sie ihn gelehrt, das Alphabet von hinten genau so schnell aufzusagen wie von vorn. Als er sie später gefragt habe, warum das, habe sie gesagt: Dass du etwas kannst, was nicht jeder kann.
    Sie war auf dem Schlugen-Hof in Gellnau im Argental als fünftes Kind zur Welt gekommen. Einmal – der Vater war schon tot – brannte der heimatliche Hof ab. Hochwinter, die Feuerwehr blieb im Schnee stecken. Alle Kühe tot. Berthold, der älteste Bruder, wurde geizig. Er verjagte alle Geschwister vom Hof. Seiner Mutter entzog er den monatlichen Unterhalt von zehn Mark, als er merkte, dass sie dafür Messen lesen ließ für ihren früh verstorbenen Mann und einen im Krieg gefallenen Sohn. Von ihm, sagte Berthold, bekomme der schwarze Rabbiner keinen Pfennig. Mutter Fini verschlug es dann nach Tettnang, zur Schneidermeisterin Bentele, die schon zwei Lehrmädchen hatte. Josefine sollte im Haus wohnen. Frau Bentele wollte das. Sie bugsierte Josefine in das kleine Zimmer, in dem man sich kaum bewegen konnte, weil da auch noch ein lederbezogenes Sofa

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