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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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die Witwe Eva Maria von Wigolfing, geborene Gansloser, Herrn Dr. Bruderhofer. Sie ist achtzehn Jahre älter als er. Wenn du sie sehen würdest, würdest du begreifen, dass das geht. Mit Eva Maria. Ich kann es nicht sagen. Ich habe es geschrieben. Du wirst es lesen. Es ist noch nicht fertig. Es muss noch gehandelt werden. Dann geschrieben. Komm jetzt.
    Der Film wurde vorgeführt im Spankörble. So hieß die Aula der Krankenpflegerschule. Die Wände waren aus ineinandergeflochtenen Holzbändern, wie früher bei den Obstkörben. Die Schule war nicht umgezogen ins Neubaugelände drüben im Wald. Der Professor hatte darauf bestanden, dass die Pflegeschülerinnen und Schüler immer noch in dem aus der Klosterzeit stammenden Bau ausgebildet wurden. Drüben wartete ein Schulneubau. Sobald der Professor pensioniert ist, wird die Schule umziehen. Das ist abgemacht.
    Am Kriegerdenkmal machte der Professor halt. Percy sagte: Du hast uns zu dieser Ehrentafel geführt, wir mussten buchstabieren, was man kaum noch lesen kann: Im Jahr 1870 sind unsere Krieger von hier ausmarschiert.
    Aber warum solltet ihr das buchstabieren, fragte der Professor.
    Und Percy: Wir sollten begreifen, was im 19. Jahrhundert passiert ist. Als Scherblingen von Stuttgart vor die Wahl gestellt wurde, ob die Klosterbauten jetzt Kasernen oder eine Heilanstalt werden sollten, haben sich die Scherblinger Bürger für die Heilanstalt entschieden. Und schon fünfundzwanzig Jahre später setzen sie dem Ausbruch eines Krieges ein pompöses Denkmal mitten in die von wenigen alten Bäumen bestandene Klosterwiese.
    Eins plus, sagte der Professor.
    Das Spankörble war schon gut gefüllt. Sie mussten natürlich in die erste Reihe. Also vorbeigehen an Innozenz, der in der letzten Reihe saß. Er sah, wie es ihm entsprach, auf den Rücken des vor ihm Sitzenden. Percy beugte sich hin zu ihm, stieß ihn leicht an, sagte seinen Namen, Innozenz fuhr hoch. Percy bat ihn, mit nach vorne zu kommen. Keinesfalls! Er in die erste Reihe, undenkbar, Dr. Schluderhose würde sich weigern, anzufangen, solange er in der ersten Reihe säße. Dann wäre er wieder der Okkupant. Hau ab, Bruder Percy.
    Percy ging nach vorne, setzte sich zwischen Frau Dr. Breit und den Professor. Das hatte die Frau Doktor durch eine Geste empfohlen. Bevor er sich setzte, sah er noch in der vierten oder fünften Reihe Luzia Meyer-Horch, und zwar neben Friedlein Vogel, und ihr Mund gerade an Friedlein Vogels Ohr. Sie musste ihm etwas ins Ohr flüstern. Und wie lang. Percy konnte nicht so lange hinstarren, wie die flüsterte. Er musste sich setzen. Aber ihm blieben Kopfhaltung und Gesichtsausdruck von Friedlein Vogel, Kopfhaltung und Gesichtsausdruck, als halte er den Kopf unter eine warme Dusche. Neben Friedlein Vogel, übermäßig aufrecht, so als habe der Stuhl keine Lehne, Gretel Strauch. Und sah, starrte nach vorne. Percy wollte, dass sie ihn sehe und darauf reagiere. Sie strich sich eine ins Gesicht gefallene Strähne zurück. Percy bedankte sich, indem er sich selber hoch über seinem Kopf die Hand drückte und diesen Händedruck zu Gretel Strauch hin schwenkte. Dann gab er noch Frau Dr. Breit die Hand. Das konnte er, weil der Professor ihr zauberhaft gemeldet hatte. Sobald er neben dem Professor saß, merkte er, dass der nicht richtig atmete. Immer wieder nicht, dann plötzlich ein jähes Atemholen. Er müsste die Hand des Professors holen, ihn streicheln. Das ging aber nicht. Zum Glück wurde es im Saal dunkel. Dann kam Dr. Bruderhofer. Trat Dr. Bruderhofer auf. Weil es jetzt dunkel war, tastete Percy hinüber. Irgendwo an der Hüfte berührte er den Professor. Er legte alle Kraft in diese Berührung. Dabei atmete er selber demonstrativ ruhig, langsam, tief.
    Dr. Bruderhofer erschien. Zuerst stand er einfach und wartete darauf, dass sich die Leute auf ihn einstellten. Und fing an: Dass es nicht ganz unkomisch sei, Urlaubsbildchen, gar solche Filme anderen vorzuführen, das sei ihm schon klar. Warum tu er’s dann? Weil er nach drei Wochen Abwesenheit wieder hier sein wolle, hier in der Klinik. Weil er hoffe, im Alltag besser verstanden zu werden, wenn er wenigstens eine Stunde lang zeige, wie es, wo er war, zugegangen sei.
    Percy fand ihn liebenswürdig. Dann der Film. Er habe einen türkischen Studenten dabeigehabt, der einmal ein Filmregisseur werden wolle, der habe, was jetzt zu sehen sei, gedreht. Dann stach die stolze zweimastige Yacht in See. Zwölf Menschen an Bord. Von denen seien aber im

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